Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Anne und ihre Jobs: Als ich HiWi war

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Hildesheim schippert immer knapp um den Status Großstadt herum. Nach 19 Jahren Dorf und drei Jahren Berlin war Hildesheim für mich nichts Halbes und nichts Ganzes. Wie die Zunge zum Fenster raushängen, wenn es regnet. Und in Hildesheim regnete es oft. Aber nach meinem Ausflug als Praktikantin in die Wüste war das: erfrischend. Mein nächster Job sollte möglichst unaufregend sein. Die Gelegenheit bot sich bald: als Hilfswissenschaftler, kurz: HiWi. Neben Kopieren, Literaturrecherchen und allerhand Organisatorischem sollte ich die Technik während der Vorlesung unseres Profs betreuen. Ein anderer HiWi war für Ton und Kabeltechnik zuständig, ich übernahm die Videobeiträge und das Richten der Scheinwerfer. Eine einschläfernde Aufgabe, genau das, was ich gewollt hatte. Die erste Vorlesung: Der Saal war proppevoll und ich vollends tüchtig an den Scheinwerfern. Zwei Stunden stand ich oben auf der Galerie, knipste die Leuchten an und aus, dimmte sie ins Zwielicht, schwenkte sie mal hier- und mal dorthin. So ein Wahnsinnslicht, da würde man noch lange von reden! Damit hatte ich aber nur alle Viertelstunde einmal zu tun. Die meiste Zeit also stand ich an der Brüstung und blickte auf den vollen Saal zu meinen Füßen und den Prof auf der Bühne. Und was sich dort abspielte, war der blanke Horror. Also nicht auf der Bühne, sondern: in meinem Kopf. Mir kamen tausend Ideen, wie ich innerhalb von Sekunden meine ganze Uni-Karriere zum Teufel jagen konnte. Dummes Zeug vom Balkon schreien zum Beispiel. Wasserbomben hinunterwerfen. Bonbons regnen lassen und „BINGO!“ rufen. Es kostete mich höchste Konzentration, nichts davon zu tun. Meine Finger krallten sich so fest um das Geländer, daß ich fast einen meiner Einsätze verpaßt hätte.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Als die Vorlesung zu Ende war, fühlte ich mich erschöpfter als nach einer ordentlichen Portion Sport. Ich hatte nicht gewußt, daß es so anstrengend sein konnte, Dinge nicht zu tun. Mein Prof kam zu mir und fragte, ob ich zurechtkäme. Ich nickte bloß. Bestimmt würde ich mich doch mit der Zeit daran gewöhnen, an den ausgestellten Balustradenplatz. Aber nichts da. Bei den nächsten Vorlesungen verkleidete ich mich nicht als Nummerngirl. Ich warf nicht mit Eiern. Ich brach nicht in hysterisches Gewieher aus und ich schoß nicht mit einer Pump-Gun Wasserfontänen auf die Bühne. Das Schlimmste war, daß keiner mich ernstnahm. Als ich Kellnerin war oder Postsortierer, da kam ich noch von der Arbeit und hörte fürsorgliche Stimmen: „Och Anne, du Arme, du mußt ja müde sein. Komm, setz dich, ich mach dir einen Kaffee.“ Der Streß war anerkannt, irgendwie „legal“, und ich rechtschaffen müde. Als Scheinwerfereuse sagten alle zu mir: „Mensch, da hast du dir ja mal nen easy Job an Land gezogen. Also ich will auch mal gern fürs Rumstehen bezahlt werden.“ Wenn die wüßten. Meine Phantasie driftete in immer aggressivere Gefilde ab und nachts hatte ich Albträume, in denen ich mich kurzerhand von der Balustrade stürzte, mitten ins Publikum. Will man so sterben? Wurde ich verrückt? Ich recherchierte ein bißchen und fand das Wort „Impulshemmung“. Man kann das so erklären: A geht die längste Treppe der Welt hinunter. Vor ihr geht B. Ganz kurz hat A den Impuls, die Hände auszustrecken und B einen Schubser zu geben und zuzuschauen, wie er die weltlängste Treppe hinunterpurzelt. Nicht aus Bösartigkeit. A will gar nicht, daß B sich wehtut. Trotzdem zucken kurz die Finger, und A steckt sie lieber in die Hosentasche. In dem Moment, wo A das tut, ist erfolgreich die Impulshemmung in Kraft getreten. Ein gesunder Mechanismus. (In diesem Fall vor allem für B.) Meine Impulshemmung schien lädiert zu sein. Immerhin hatte ich sie einigermaßen im Griff. Oder nicht? Bald sollte ich daran zweifeln. Denn bei der nächsten Vorlesung geschah Folgendes: Der Saal: hunderte gespannte Augenpaare. Rascheln, verhaltenes Hüsteln. Ich: wieder ganz super und beherrscht an den Scheinwerfern. In der Vorlesung kam ein Beitrag, für den ich eine Videokassette zurechtgespult hatte. Eine Kunstpreisverleihung sollte gezeigt werden. Ein ruhmhafter Preis für einen Künstler, den mein Prof nicht besonders leiden mochte. Euphemistisch ausgedrückt. Trotzdem mußte es halt gebracht werden. Nachrichtensprecher können sich ja auch nicht aussuchen, welche Meldungen sie verlesen, und welche nicht. Man stelle sich nur Jan Hofer vor: „Och, nö, Berlusconi und die Merkel, nach denen ist mir heute nicht, ich sag lieber was über Frau Maruschke, die kann so gut Pflaumentörtchen...“ – wo kämen wir denn da hin? Also moderierte der Prof brav und neutral die Preisvergabe an und gab uns das Zeichen zum Abspielen des Videos. Doch statt des breit lächelnden Künstlers flimmerte etwas anderes über den Bildschirm: Bruce Willis in „Stirb langsam 2.“ Ich kann natürlich nicht beweisen, daß es nicht meine Schuld war. Aber gesagt sei, daß mein Prof das äußerst gelassen hinnahm und vor versammelter Mannschaft auch gleich einen verdächtig flotten Spruch auf den Lippen hatte. Deshalb lastete ich es nicht unbedingt meiner unkontrollierbaren Impulshemmung an. Trotzdem trennte ich mich bei Semesterende von dem Job. Ständig Dinge nicht zu tun, das war mir auf Dauer wirklich zu anstrengend. Manchmal überkommen mich heute noch solche Impulse. Letztens zum Beispiel sah ich einen Freund von mir während einer Live-Sendung im Fernsehen. Ich zückte mein Telefon und wählte seine Handy-Nummer. Gespannt starrte ich auf den Bildschirm und wartete auf das Freizeichen.

Text: anne-koehler - Illustration: Katharina Bitzl

  • teilen
  • schließen