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Anne und ihre Jobs: Als ich Kellnerin war

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Ich komme aus einem 250-Seelen-Dorf in Hessen. 19 Jahre ohne Einkaufsmöglichkeit, ohne Telefonzelle, ohne Ampel. Selbst die Mittelstriche auf der Straße waren über die Jahre verblaßt. Ich weiß also, wovon ich spreche, wenn ich „Dorf“ sage. Und nach dem Abitur sagte ich nicht: „Stadt“, ich sagte: „Kapitale!“ Bei meiner Abschiedsparty bemerkte ein Freund, daß ich eine Bierflasche nicht mit dem Feuerzeug öffnen konnte, und fragte besorgt: „Anne, wie kommst denn du durchs Leben?“ Wenige Tage später stand ich mit meinen Siebensachen in Berlin am Bahnhof. Es war 1997. Ich wollte meine eigene Wohnung, ich wollte einen richtigen Job, ich wollte Mittelstriche, Ampeln, Telefonzellen und Spätkäufe so weit das Auge reicht, – das volle Programm eben. Vor allem wollte ich endlich mal damit loslegen, gut durchs Leben zu kommen. Berlin hatte nur auf mich gewartet. „Ich bin jetzt da!“, rief ich, aber die Stadt war viel größer als ich und viel lauter und zeigte keinerlei Reaktion. Ich hatte mich für ziemlich gut gerüstet gehalten. Ich wußte, wie man kocht und Wäsche wäscht und Karten liest und hatte alle MacGyver-Folgen gesehen. Einen Studienplatz hatte ich und eine Wohnung war schnell gefunden: Sie lag in Neukölln, hatte 40 Quadratmeter, einen Kohleofen, keine Dusche und kostete 285 Mark warm. Trotzdem mußte ich nebenher arbeiten. Kellnern, entschied ich, – wußte doch jeder, daß die meisten eigentlich Studenten, Schauspieler oder Tänzer waren. Job – ich wär dann soweit! Aber keiner wollte mich einstellen. „Wat? Noch nie jezapft hat se? Dit kannse vajessen!“ Irgendwann landete ich bei einer Agentur, die Service-Personal an die teuren Hotels vermittelte. Auf der dreitägigen Schulung zeigte man mir, wie ich den Papst zu bedienen hätte – obwohl wir alle wußten, daß die Wahrscheinlichkeit, daß ich das je würde tun müssen, quasi gleich Null war. Hauptsache bezaubernd lächeln und bei Hochzeitsgesellschaften nie hübscher sein als die Braut, das merkte ich mir. Um fünf Uhr morgens der Blick in den Spiegel: Ich im Nadelstreifenkostüm mit Fliege und Schürze. „Ich bin Ihre Kellnerin“, sagte ich und das fühlte sich trotz der Uhrzeit gut an. Im Hotel bekam ich eine goldene Anstecknadel mit dem Schriftzug: „Yes I can.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Damals war der Spruch mit nichts heroischem behaftet, drückte keine Aufbruchstimmung aus. Und auch ich tat das nicht, mein Lächeln morgens um 6.00 Uhr war – gelinde gesagt – nicht ganz so bezaubernd. Und beim Zusehen, wie Paare in meinem Alter mit Champagnerfrühstück in den Tag starteten, wurde das nicht gerade besser. „Pronto, das muss schneller gehen“, schrie man mir entgegen. Tausend Tassen, Milchschaum und Kaffee, auf einen Untersetzer und dann Löffel und Zucker und Keks. Und alle noch heiß und gleichzeitig vor die Gäste. Pronto. Tausend Tassen. Und ich. Atemlos, mit zitternden Fingern die Untertassen aufgereiht, auf jede ein Papierdeckchen und einen Löffel, den Zucker daneben, am Ende der Keks. Gläser und Besteck polieren, bezaubernd lächeln, Teller abräumen, bezaubernd lächeln, Servietten falten, bezaubernd lächeln. So ging das immer weiter. Mich nach der ersten Schicht hinzusetzen und die Schuhe auszuziehen, stellte sich als grober Anfängerfehler heraus. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals solche Schmerzen in den Füßen gehabt zu haben. Weh und Ach. Eine Kollegin empfahl mir etwas, das klang wie „Schruntn-Salbe“ – Ich hätte am liebsten nicht einmal gewußt, daß es so ein Schruntn-Wort überhaupt gab. Als ich nach Hause kam, hatte ich Post im Briefkasten. Von Mama. Genau das richtige gegen Heimweh, dachte ich und riß den Umschlag auf. Heraus fiel ein mehrseitiger Spiegel-Artikel mit dem Titel: „Endstation Neukölln.“ Es war von Schießereien die Rede, von Verwahrlosung, Gewalt und Hunger. Ich blickte mich in meiner leeren Wohnung um. Ich hatte noch kein Telefon, und nach einer öffentlichen Zelle war mir nicht mehr zumute. Ich machte mir ein Bier mit dem Kellnerbesteck auf. Beim Trinken mit dem Blick auf vier weiße Wände gab ich mir große Mühe, mich erwachsen und frei zu fühlen. In der gehobenen Hotellerie wird einer Aushilfskraft ans Herz gelegt, immer ruhig und höflich zu bleiben. Wenn es Probleme gibt, sollte man das nicht selbst regeln, sondern sich artig entschuldigen und zum Oberkellner gehen. Dabei ist es egal, ob man von einem Gast angeschnauzt oder an den Hintern gefaßt wird. Beides passierte mir einige Male in den folgenden Wochen. Und nicht selten zeigte der Blick des Oberkellners, daß er das für meine Schuld hielt, und daß ich mich nicht so anstellen sollte. Abends war ich immer ganz klein, mit Betonfüßen, übte das mit dem Bier und den Feuerzeugen, um mich nicht völlig unfähig zu fühlen – hier in Neukölln konnte das bestimmt jedes Kind. Für mein Seelenheil entschied ich, daß ein Telefon hermußte, damit ich wenigstens abends wohlgesonnene Stimmen hören konnte. Bald darauf stand ich bei der Telekom im Laden und zitierte den Werbespruch: „Telekom, die machen das.“ Auf der Theke zwischen mir und dem Telekom-Mann prunkte meine Errungenschaft vom Flohmarkt: Das Telefon. Mit Schnur, mit Wählscheibe, mit einer gebogenen Sprechmuschel, mit Holzkasten mit Goldbeschlägen und vielen heraushängenden Kabeln. Der Blick des Telekom-Mannes war verwirrt. „Telekom, die machen das!“, sagte ich noch einmal mit Nachdruck und blickte den Mann aufmunternd an. Doch der Telekom-Mann schüttelte den Kopf und blickte auf das Telefon wie ein Arzt, der gerade seinen Patienten verloren hat. „Näh, DIT machen wa nüscht.“ Mir wurde klar, daß alle goldenen Sprüche ihre Grenzen hatten. Und daß ich meine eigene Grenze längst überschritten hatte, nur, weil ich nicht hatte aufgeben wollen. Am nächsten Tag kündigte ich. Neben den praktischen Dingen habe ich vor allem eins gelernt: Yes I can gilt nur, so lange keiner erniedrigt wird. Auch ich nicht. Dann heißt es: No I won’t. Ach, ich würde noch unglaublich gut durchs Leben kommen! Abends lag ich in der Wohnung. Der Ofen bollerte und ich hatte die schruntnfreien Füße hochgelegt und zum ersten Mal seit meiner Ankunft fühlte ich mich zuhause. Gleich würde das Telefon klingeln und ganz herrlich im Zimmer hallen. Der Papst wird dran sein. Er wird vorbeikommen und sich mit mir an den Küchentisch setzen und sehr dankbar und beeindruckt sein, daß ich ihm eine Flasche Bier mit dem Feuerzeug öffnen kann. Heute, zwölf Jahre später, wohne ich übrigens circa 50 Meter Luftlinie von meiner ersten Wohnung entfernt. In den Wohnungsanzeigen wird Neukölln nun als der neue Künstlerkiez angepriesen. Eine Bierflasche kann ich mittlerweile mit fast allem öffnen. Nur mit den Zähnen noch nicht – aber das hebe ich mir für die Dritten auf, das wird ein Festtag!

Text: anne-koehler - Illustration: Katharina Bitzl

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