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Anne und ihre Jobs: Als ich Küchenhilfe war

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Berlin, 2006. Meine Diplomarbeit war abgegeben, ich hatte vier Wochen Auszeit in Hongkong genommen und wartete nun auf den Termin für meine Abschlußprüfung. Eine Dazwischenzeit, in der man eben nur fast fertig ist – wie mit Schwimmflügeln am Ufer des Ozeans stehen und das Schiff am Horizont anvisieren. In den Jahren meiner Abwesenheit hatte sich die Stadt verändert, oder ich mich zumindest. Ich wollte neue, interessante Plätze und Menschen und Arbeit. Es war der WM-Sommer. Berlin war überfüllt, hitzig und laut Presse: unbeschreiblich fröhlich. Für die Einwohner war die vielgerühmte Freude oft nah am hysterischen Gekicher. Es gab ein bißchen zu viel von Allem. Touristen, kecke Spatzen auf Frühstückstellern, Weltoffenheit und natürlich: Public Viewing. Die einzige Chance, nicht verrückt zu werden, war, am Rande mitzuplantschen. Zur Überbrückung der Zeit bis zu meiner Prüfung nahm ich einen Job als Kellnerin und Küchenhilfe an. Ich war beides gleichzeitig, ein Ein-Mann-Betrieb. Ich kochte Kaffee, zapfte Bier, machte Eisbecher und backte zwischendrin Kuchen oder kochte Suppen in der schmalen Küche. Die meiste Zeit war das zu schaffen, da das Café nicht mitten im Hysteriezentrum lag. In der freien Zeit ließ ich mich durch die lauen Nächte treiben. In Großstädten sind die Bekanntschaften oft flüchtig. Man verliert sich genauso schnell aus den Augen, wie man sich gefunden hat. Mir fällt es nicht immer leicht, auf neue Leute zuzugehen und diese flatterhaften Kontakte zu erden. Doch dieser Sommer nahm mir die Arbeit ab. Durch die dauernden Spiele, die Sommerhitze und die Leinwandübertragungen fanden sich Guckgemeinschaften zusammen, und nach den Spielen zog man noch weiter durch die Nächte. So hatte ich bereits während der Vorrundenspiele eine gute Handvoll Leute, die ich anrief, um mich zu verabreden. Meistens jedoch waren wir alle spät dran, und nicht selten war unser Blick auf die Leinwand wie eine erster Vorgeschmack auf die Alterskurzsichtigkeit: Entweder saßen wir so weit hinten, daß man den Ball mehr erahnte als sah, oder irgendetwas versperrte uns die freie Sicht.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Beim Viertelfinale Deutschland gegen Argentinien sollte das anders werden. Ich hatte allen versprochen, bereits zwei Stunden vor Anpfiff an unserem Lieblingsort zu sein, und die besten Plätze freizuhalten. Vorher hatte ich eine Schicht im Café – danach wären zwei Stunden draußen mit Buch und Bier ohnehin genau das Richtige. Ausgerechnet an diesem Tag wurde ich im Café dazu abgestellt, sechzig Portionen kalte Gurken-Joghurt-Suppe für eine Gesellschaft am nächsten Tag vorzubereiten. Ich schälte eine Gurke nach der anderen und entkernte sie. Alles dauerte viel länger als geplant, längst hätte ich mich auf den Weg machen müssen. Meine Hektik, gepaart mit der Glitschigkeit der Gurken, führte dann zum Eklat: ich säbelte mir tief in den Finger. Ich schaute nur lange genug hin, um mich zu vergewissern, daß die Kuppe noch dran war. Dann wickelte ich Küchentücher drum herum, die sich erschreckend schnell mit Blut vollsogen. Im Taxi sauste ich in die Charité. Dort sah es aus wie in einer Schule nach dem Hitzefrei – nur vereinzelt schlurfte hier und da mal jemand durch den Gang. Die meisten waren ausgeflogen, die Dagebliebenen strahlten irgendwie Urlaubsstimmung aus. Ein Arzt kam, enthüllte meinen Finger und sah sich den Schaden an. „Und, wie sieht es aus?“, fragte ich. „Entzückend!“, sagte er und lachte. Wir sollten schnell machen, er wolle sich das Spiel ansehen. Als mein Finger zusammengetackert war, und ich vor das Krankenhaus trat, waren die Straßen wie ausgestorben. Höchstens noch eine Viertelstunde bis zum Anpfiff. Ich rannte um zahllose Ecken, bis ich ein Taxi fand. Für den Fahrer war es die letzte Fahrt des Tages, auch er wurde irgendwo erwartet. Mit quietschenden Reifen hielt er vor dem Biergarten an. Ich war kaum aus dem Auto draußen, ein Fuß noch in der Luft, da brauste er schon weiter. Ich hetzte los. Meine Mitgucker hatten selbst Plätze gefunden – unmittelbar vor einer riesigen Platane. Die Sicht war 50/50. Auswahlmöglichkeiten: Platane links, in der Mitte, oder rechts. Als sie mich sahen, wollten sie schon zu schimpfen anfangen wie die Rohrspatzen. Doch das schluckten sie herunter, als sie mich genauer betrachteten. Ich hatte noch meine eingesauten Küchenklamotten an. Am schlimmsten aber waren meine Arme: dort leuchtete ein farbenfrohes Pottpourri aus dem Grün der tausend geschälten Gurken, Blut und Desinfektionsmittel. Daneben der blütenweiße Fingerverband. Keiner beschwerte sich über die baumgestörte Sicht. Jemand holte mir erstmal ein Bier. Für die Dauer des Spiels war der Schmerz im Finger verschwunden und alle schauten kommentarlos um die Platane herum und lobten den zusätzlichen Spannungsfaktor. Nach dem Spiel waren alle in Feierlaune. Am liebsten hätte ich mitgemacht. Doch das Gewissen rief mich zur Raison: die Gurkensuppe mußte fertig gemacht werden. Obwohl ich den Job sowieso nicht ewig weitermachen wollte und mich längst entschieden hatte, bald zu kündigen. Auch, wenn es nur Nebenjobs sind – es ist ein schlechtes Gefühl, das zurückbleibt, wenn man sich nicht einvernehmlich trennt. Meist fängt man an, häufiger krank zu werden und Schichten abzusagen, bis man dann irgendwann gar nicht mehr hingeht. Ein langsames, allmähliches Entziehen. Ich kannte das von einigen Jobs der letzten Jahre, und hatte davon immer noch einen schalen Nachgeschmack auf der Zunge. Jeder weiß doch: Es ist besser, ein Pflaster schnell und mit einem Ruck abzuziehen! Doro, eine meiner Mitguckerinnen, sah meinen traurigen Blick, als alle beschlossen, weiterzuziehen. Ohne zu zögern schloß sie sich mir an und kam mit ins Café. Den ganzen Abend über standen wir dort zu zweit in der Küche, mixten zusammen die Gurken, hackten Pfefferminze und Petersilie, tranken Alster und redeten. Als mein Chef vorbeikam, um nach dem rechten zu sehen, sagte ich ihm, daß ich mir bald lieber einen anderen Job suchen würde. Er hatte genug Personal und würde keine Schwierigkeiten haben, mich zu ersetzen. „Kein Problem“, sagte er und probierte die Suppe. „Aber schade ist es schon. Komm ab und zu vorbei und erzähl, wie es bei dir läuft, ja?“ Ich versprach es. Den Rest der WM-Zeit arbeitete ich nicht mehr. Ich sah es als Eingewöhnungsphase an, bereitete mich auf die Prüfung vor, und bald fühlte ich mich in Berlin wieder ganz zuhause. Die Weltmeisterschaftshysterie flaute ab, es wurde Herbst, die Einwohner eroberten die Stadt zurück. Auch später noch ging ich ab und zu im Café vorbei, saß bei meinem alten Chef an der Bar und plauderte mit ihm und den anderen Kellnern. Seit anderthalb Jahren ist das Café geschlossen. Manche der Kollegen treffe ich aber heute noch ab und zu. Und Doro ist seitdem eine gute Freundin, der ich ohne Bedenken meine Schwimmflügel leihen würde. Nur die Narbe am Finger ziept manchmal.

Text: anne-koehler - Illustration: katharina-bitzl

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