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Anne und ihre Jobs: Als ich Lektorin war

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„Mama, was macht die Frau da?“, fragte ein kleiner Junge und zeigte irgendwo hinter mich. Ich drehte mich um, aber ich stand alleine auf der Straße. Ratlos kratzte ich mich im Nacken. Was die Mutter sagte, hörte ich nicht mehr, bemerkte aber, daß sie mich ansah. Der kleine Junge hatte wohl mich gemeint. Seltsam. Kinder hatten mich doch immer Mädchen genannt, aber: die Frau? Ich stieg in den Bus, ein Mädchen kam auf mich zu, vielleicht vierzehn, und fragte mich nach der Uhrzeit. Es siezte mich. Sprachlos stieg ich aus, ging nach Hause, spürte tiefe Runzeln in meinem Gesicht, wurde plötzlich sehr müde und dann wurde ich krank.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Als Selbständiger krank zu sein, ist nicht gut. Der Arzt fragt dann gar nicht erst, ob er einen krankschreiben soll – sondern ob man es sich gerade leisten kann, sich hinzubetten. Bei mir stellte sich diese Frage nicht mehr. Ich wurde so krank, daß der Notarzt höchstselbst angebraust kam. Von der folgenden Woche blieb nur blasser Dunst. Erst nach drei Wochen war ich wieder halbwegs aufrecht. Unter meinen Fußsohlen fühlte es sich an, als seien Luftmatratzen untergeschnallt. Wegen der Schmerzmittel. Sollte ich jemals gemeint haben, auf Wolken spazieren zu gehen sei schön, wurde mir das gründlich ausgetrieben. Trotzdem – nicht zu arbeiten konnte ich mir nicht länger leisten. Aber fürs Kellnern war ich noch nicht fit genug. Glücklicherweise vermittelten mir Freunde einen körperlich weniger anstrengenden Job: Ein Gesundheitsratgeber, der aus dem Amerikanischen übersetzt worden war, sollte lektoriert werden. Step by step zu einem gesünderen Leben. Wie praktisch, dachte ich, da könnte ich doch gleich noch was fürs Jungbleiben tun. Der Text, den ich bekam, war katastrophal. Alles war 1:1 übersetzt. Es wimmelte von Wiederholungen und seltsamen Satzkonstruktionen. Manche Sätze waren so verschwurbelt, daß ich den Inhalt überhaupt nicht verstand. Warum sollte ich mir an der Kaffeemaschine um die Ecke etwas zu essen holen? Immer häufiger griff ich zur Originalausgabe und machte die Arbeit, die eigentlich der Übersetzer hätte erledigen müssen. Je länger ich mich damit beschäftigte, um so mehr zersetzte es mein Sprachzentrum. Mein persönlicher Lieblingssatz: Genießen Sie Ihre Transformation! Von der Krankheit und den Medikamenten fühlte ich mich so elend, daß ich zu allem bereit war, um meinen Zustand zu verbessern. Ich las, daß es auf die richtige Einstellung ankomme, man neue Denkansätze entwickeln und umsetzen müsse. Positiver Wille und so. So weit, so gut. Eine Empfehlung für die Praxis war dann allerdings: Statt den Drive-In zu benutzen, solle ich doch öfter mal zu Fuß zum Imbiß gehen! Obwohl mich solche Vorschläge zu den schönsten Lachtränen rührten, sickerte es irgendwie in meinen Kopf, daß ich komplett ungesund lebte. Bisher hatte ich mich allen widersetzt, die mich zum Nichtraucher, Heiß-Kalt-Duscher oder Jogger machen wollten. Worte wie probiotisch hatte ich mit Verachtung gestraft, und ob irgendeine Bakterienkultur sich nun rechts- oder links herum drehte, interessierte mich herzlich wenig. Doch die Krankheit hatte nicht nur mein Immunsystem geschwächt, sondern auch meinen Abwehrmechanismus gegen unbequeme Wahrheiten. Ich war desolat und höchst anfällig für persönliche Kritik. Nach einem Blick auf die Lettern: „Rauchen läßt ihre Haut altern“ auf der Zigarettenpackung nahm ich mir fest vor, endlich alles zu ändern. Wie ich mein Leben umkrempeln würde! Uralt würde ich werden, so gesund wären all meine neuen Gewohnheiten! Laut Buch war zunächst eine Bestandsaufnahme angesagt. Um den Grad meines momentanen, ungesunden Lebenswandels genau zu bestmmen, bedurfte es einiger Tests. Ich scheiterte schon am ersten, da ich keine Waage im Haus hatte. Also peilte ich alles über den Daumen und übersprang den Rest. Die kleinen Dinge seien wichtig, belehrte mich das Buch. Ich solle einfach öfter mal mit dem Hund rausgehen. Ich sah mich um, aber trotz enormer telepathischer Anstrengung materialisierte sich kein Hund in meinem Zimmer. Doch dafür wußte das Buch eine Lösung: Wenn ich keinen Hund hätte, sollte ich mir einen ausleihen! Ich schaute mein Telefonbuch durch. Aber keiner meiner vor-Ort-Freunde hatte einen Hund. Vielleicht ginge auch ein Kind, dachte ich und rief eine frischgebackene Mutter-Freundin an. Ob ich mir ihr Baby ausleihen könne, fragte ich. Auf die Frage nach dem Warum sagte ich ihr, weil sie keinen Hund habe. Da mußte sie plötzlich ganz dringend los. Auswandern oder so. Typisch, dachte ich. Da zeigt man guten Willen, das eigene Leben in den Griff zu bekommen, und sofort machte einem jemand einen Strich durch die Rechnung. Je mehr ich mich durch das Buch arbeitete, um so verrückter klangen die Empfehlungen. Sie schienen sich an Leute zu richten, die keine zwei Schritte am Tag machten und nur Mikrowellenessen kannten. So ungesund war mein Leben wohl gar nicht. Ich kochte täglich und gut, bewegte mich ausreichend, und was für meinen Körper an Gewohnheiten ungesund war, brauchte meine Seele um so mehr. Außerdem dämmerte mir, daß man sich schon selbst disqualifiziert, wenn man das Wort „Jungbleiben“ benutzt. Dann galoppiert der Klepper schon unaufhaltsam Richtung Sonnenuntergang! Ich konzentrierte mich wieder auf meinen eigentlichen Job und versuchte, das verdrehte Geschwurbel einigermaßen lesbar zu machen. Um wenigstens den späteren Lesern und eventuellen Sofa-Nachtschattengewächsen die Chance zu geben, die Ratschläge zu beherzigen, sich Hunde auszuleihen und zu Fuß zur Bude zu marschieren. Sobald ich die Schmerzmittel absetzen konnte, ging es mit meinem Gemüt bergauf. Ich setzte mich in meinem Zimmer vor den Spiegel und erinnerte mich daran, daß mein Augenarzt mir einmal sagte, meine Augen seien fünfzig Jahre älter als ich. Damals hatte mich das schockiert, jetzt fand ich es schön, so weise und fast achtzigjährige Augen zu haben. Durch sie sah mein restliches Gesicht gleich viel jünger aus. Ich rief meine Mutter-Freundin erneut an. „Das lag alles nur an den Medikamenten, ich war benebelt und nicht ganz zurechnungsfähig“, beteuerte ich, und lud sie – ohne Kind – zum Essen ein, um ihre letzte Skepsis mir gegenüber zu zerstreuen. Wenn ich heute in den Spiegel sehe, mag ich die Fältchen, die ich finde. Immerhin habe ich mir alle hart erarbeitet. Die meisten davon sind Lachfältchen, behaupte ich. Und ein Mädchen bin ich ja wirklich nicht mehr. Nie vergessen: Genießen Sie Ihre Transformation!

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