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Anne und ihre Jobs: Als ich nicht Kressesprecherin war

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Zwischen Berlin und Hildesheim bestand ein feldweglanger Unterschied. Der Vergleich ging aber nicht immer zugunsten von Berlin aus. So viel man Hildesheim vorwerfen konnte, es hatte einen Vorteil: In Ermangelung von Angeboten schlossen sich die Leute dort zusammen, und stellten selbst etwas auf die Beine. Nach meiner Rückkehr stand ein großes Festival bevor. Und da ich gerade monatelang in einer Presseabteilung trainiert hatte, ernannte man mich kurzerhand zur Pressesprecherin. Klang logisch. Ich suchte Medienpartner, schrieb Pressetexte, auch den typischen Trippelschritt hatte ich noch drauf. Trotzdem begann ich, an meiner Eignung zu zweifeln. Der erste Auslöser dafür war ein Rendez-Vous. Ich hatte einen jungen Herrn zum Abendessen eingeladen. Pünktlich zur Türklingel kochte das Wasser. Ich ganz souverän: Tür aufmachen, das Lächeln mögen, schnell die Nudeln ins Wasser werfen, plötzlich der Finger im heißen Wasserdampf, stechender Schmerz, Indianer sein, weiterlächeln. Kurz darauf hing ich mit der Hand im Eisfach und mein Besuch übernahm das Weiterkochen. Den Rest des Abends verbrachte ich mit dem Finger in einem Glas voller Eiswürfel, was wir der Romantik zuliebe ignorierten. Aber ich war kein Indianer. (Und der Spruch ist eh Quatsch.) Nach zwei Stunden voller Schmerzgrenzerfahrungen sah mein Finger mutiert aus. Er hätte in einer Star-Trek-Folge als Wirtskörper für einen außerirdischen Parasiten mitspielen können. Mit Finger im Eiswürfelglas gingen wir ins Krankenhaus. Diagnose: Verbrennung zweiten Grades. Damit waren Abend und Rendez-Vous erst einmal zu Ende. Ein Mitbewohner von mir war Kinderarzt. In den nächsten Tagen versorgte er meine Wunde. Was hieß, daß er Hautfetzen einzeln mit der Pinzette abzog, während ich auf Eßstäbchen biß, um die Schreie zu unterdrücken. Sollte ich jemals das Bedürfnis verspürt haben, Arzt zu werden, war es damit nun endgültig vorbei. Aber ich bewunderte seine Ruhe und die kühlen, beruhigenden Hände. Ich war Zeuge der perfekten Symbiose aus Mensch und Beruf. Bei jeder Handbewegung war klar, daß er nichts anderes hätte werden dürfen. Er war wie dafür geschaffen! Darum beneidete ich ihn genauso, wie um die Relevanz seiner Arbeit. Meine eigene kam mir dagegen oberflächlich vor. Keiner würde sterben, bloß weil ich einen Fehler machte. Bei der Pressearbeit und mir konnte von einer symbiotischen Beziehung nicht die Rede sein. Eher von einer müde und alt gewordenen Zweckgemeinschaft, die jede Gelegenheit nutzt, aufeinander herumzuhacken.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Festivalzentrum wurde wochenlang geschuftet, gehämmert, getackert, geschraubt. Jedes Detail sollte stimmen. Ich saß im Pressezimmer und meetete und briefte und telefonierte. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich ohne Unterlaß eine Kollegin: Die Kressesprecherin. Bei der Eröffnungsveranstaltung sollte es Butterbrot-Häppchen geben – und für den Belag war die Kressesprecherin zuständig: Große Tischplatten vollgepflanzt mit Kresse. Ein paar Scheren dazugelegt, und das schönste Buffet der Welt wäre fertig! Das war der Plan. Ich war eifersüchtig. Ich wollte die Kressesprecherin sein. Ich wollte Testläufe machen: Kresse säen, die Proben an unterschiedlichen Orten mit wechselnden Sonnen- und Temperaturverhältnissen plazieren. Den kleinen Pflänzchen Musik vorspielen und sie im Takt mit Wasser einsprühen. Ich wollte jeden einzelnen Kressehalm allmorgendlich zum Türrahmen bringen und seine Größe mit einem Strich markieren. Jedes Stadium des Heranwachsens dokumentieren, Fotoalben anlegen, Stammbäume zeichnen. Der Kresse irgendwann die Bilder zeigen und sagen: "Schaut, da seid ihr so klein und süß gewesen!" Ich mochte Nutzpflanzen schon immer lieber als Blumen, die nur zum Anschauen da sind. Noch heute macht man mir größere Freude mit einem Strauß Kräutern als mit Rosen, Tulpen, und anderem Blühgedöns. Wehmütig schielte ich auf die Kresseabteilung. Die Pressearbeit machte ich zwar nicht schlecht, aber eigentlich ging sie mir auf die Nerven. Doch ich traute mich nicht, die Kressesprecherin zu fragen, ob wir tauschen könnten. Es wäre mir wie ein Versagen vorgekommen. Alle erwarteten von mir, die Pressesprecherin zu sein. Also bewahrte ich Haltung und versuchte, meine Sache gut zu machen. Aber der kresse Liebeskummer blieb. Am Tag der Festival-Eröffnung saß die Kressesprecherin verzweifelt im Schaufenster, als ich eintraf. Sie hatte sich verkalkuliert: auf den Kressetischen sah es aus wie in einer Tragödie kurz nach dem Showdown. Der eine Teil der Pflanzen lag da wie auf dem Sterbebett, der andere Teil hatte gerade erst zu wachsen begonnen, von Grün war nichts zu sehen. Die Kressesprecherin ließ den Kopf hängen, wie um sich mit ihrer Kresse solidarisch zu zeigen. Mir hatte das Gewand der Presesprecherin auch nicht wirklich gepaßt. Es war wie ein Kleidungsstück, das hübsch anzusehen ist, einem aber beim besten Willen nicht steht. Wie war ich da hineingeraten? Plötzlich kam mir das Foto meiner Einschulung in den Sinn. In meiner Heimat bekommen zu diesem Anlaß alle Kinder eine riesige Bretzel aus Hefeteig. Damit stehen sie vor einer Tafel mit dem Schriftzug: „Mein erster Schultag“, und lächeln in die Kamera. Die Mädchen tragen Riemchensandalen und Spitzenblüschen und Rüschen und Röckchen oder Kleidchen mit Borten und Schleifchen. Ich habe auf meinem Einschulungsfoto einen Jogginganzug und Turnschuhe an. Damals wußte ich noch, was ich wollte. Die Meinung anderer hat mich dabei nicht gekümmert. Hatte ich all das aufgegeben? Muß man vielleicht einiges davon aufgeben, wenn man erwachsen wird? Sicher werde ich noch oft Jobs machen müssen, die weder Heldentaten verlangen, noch mich besonders fordern oder ausfüllen. Auch auf einen Jogginganzug würde ich jetzt nicht mehr bestehen. Dennoch sollten wir wohl regelmäßig hinterfragen, womit wir gerade unsere Zeit verbringen. Sonst bleiben wir am Ende noch in einem Job hängen, der zwar logisch erscheint, uns aber nicht entspricht. Denn es ist doch so: die Jobs, die wir liebevoll erledigen, die machen wir am besten. Wir bringen mehr Energie für sie auf – und wenn wir sie gut machen, sind wir glücklich. Sollte das nicht der ausschlaggebende Faktor sein? Ich hoffe, ich kann irgendwann einmal die Kressesprecherin sein. Es wird zwar keinem Menschen das Leben retten, aber einer ganzen Menge Kresse. Und vielleicht hören dann endlich meine Albträume auf.

Text: anne-koehler - Illustration: Katharina Bitzl

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