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Nachtwache im Hostel 5: Popstars, Schauspieler und Schlägerei

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Mittlerweile arbeitete ich seit einem ganzen Jahr als Nachtwächter und die Nächte fühlten sich länger an. Sicherlich, so manche Schicht bot ein Panoptikum an Skurillitäten: Geflüchtete Ehemänner, die nicht auf die Couch, sondern in ein Hostel verbannt worden waren, zwielichtige Osteuropäer, die offensichtlich nicht wegen der Bavaria nach München gekommen waren oder einfach höchst unterhaltsame Mitarbeiter wie der Bürokratieaffine Rezeptionist Mark oder die singende und malende Barfrau Karla. Großes Kino waren auch die Kandidaten der Casting-Show Popstars. Die hatte es allesamt für einen Recall nach München verschlagen. Die ganze Nacht trällerten aus den Zimmern die grausigsten R’n’B-Songs, bis sogar bei meinem normalerweise ziemlich entspannten Mitbewohner und Kollegen Basti die ästhetische Schmerzgrenze neu definiert wurde und er die Popstars-Kandidaten zum Üben in einen separaten Raum einkasernierte. Basti war es auch, der Matthias Schweighöfer dazu anhalten musste, endlich mal die Schnauze zu halten, als eine Gruppe von Schauspielschülern das halbe Hostel ausgebucht hatte. Leider gab es auch andere Nächte. Die ganz normalen. Die gähnend langweiligen oder schier unfassbaren. Unfassbar weil ich bis dato nicht wusste, dass man eine spezielle Technik entwickeln konnte, um Handtücher in einen Schrank einzuräumen. Kollege Ö. hatte so eine Technik. Und da war man da schon ein bisschen erstaunt, wenn man gerade geistesabwesend Handtücher in den Schrank stopfte und plötzlich von der Seite angebellt wurde: „Du checkst nicht, wie man Handtücher einordnet. Soll ich dir zeigen, wie das geht?“ Er zeigte es mir. Immer wieder. Man kann sich sicherlich denken, dass auch das Einräumen von Getränken in den Kühlschrank in der Welt des Ö, eine Aufgabe höchster Difizilität darstellte. Doch es gab auch Nächte, die weit über das normale Maß einer durchschnittlich nervigen Nacht hinausgingen. Diese zeichneten sich insbesondere dadurch aus, dass man sich am Ende der Schicht fragte, wie man als harmloser Student in so eine Parallelwelt geraten konnte. Eine dieser „besonderen“ Nächte begann wie alle anderen auch. Jedenfalls fast: Die neue Kaffeemaschine produzierte einen ungleich besseren Kaffee als die alte. Doch das war dann wirklich auch schon die einzige Neuerung. Der wettsüchtige Inder Raffi (der irgendwie einen Grund hatte, dauerhaft im Hostel zu wohnen, den er aber nicht mitteilen konnte/wollte) wettete mal wieder mit einem der Rezeptionisten den Ausgang eines Spiels der israelischen Liga. Der Wetteinsatz betrug ein Balisto. Dann setzte sich Raffi zu mir und fing an, eine seiner Geschichten zu erzählen. Auch diese Geschichten gehörten mittlerweile zum nächtlichen Unterhaltungsprogramm. „Kennst du die Hirschmann?“ Ich verneinte. „Du kennst nicht die Hirschmann? Die Hirschmann hat Gastronomie in München erfunden! Habe für Hirschmann gearbeitet. Und der hat sich erschossen.“ Ich runzelte die Stirn. „Hat seinen Kopf auf Herdplatte gelegt. BUMM! Schießt sich in Kopf. Mein Hemd voller Blut.“ Raffi lachte meckernd auf, klatschte sich auf die Schenkel, als hätte er einen brüllend komischen Witz kredenzt. Und erzählte die Geschichte noch mal. Als ich nach dem zweiten Durchgang immer noch nicht wusste, was ich dazu sagen sollte, begann er wieder von vorne: „Er legt also Kopf auf Herdplatte...“ In diesem Augenblick knackte das Walkie und Ö.’s Stimme gellte durch das Walkie: „Schnell! Disco!“ Ich rechnete nicht mit ernsthaften Schwierigkeiten. Man war diese panikgeschwängerten Ansagen schon lange gewohnt. Meistens waren es dann nur irgendwelche Jugendliche, die ihre Kippenstummel vom Balkon geschnippt hatten. Ich schlurfte also in gemächlichem Tempo Richtung Disco, als mir eine Mitarbeiterin schreiend entgegenlief. Bevor ich fragen konnte, was eigentlich los sei, hörte ich Glas splittern. Ö. hatte einen Discobesucher im Würgegriff und zwang ihn brüllend zu Boden. Ein anderer Gast hatte eine Flasche in der Hand und wankte mit rotem Gesicht auf Ö. zu. Der Dj stellte sich zwischen die beiden und schrie mich mit überquellenden Augen an: „Steh nicht so blöd rum. Ruf die Bullen“. Ich nickte, konnte mich aber nicht sofort von dem Handgemenge losreißen. Ich drehte mich um und lief in die Rezeption hoch. Einen Anruf später liefen sieben Polizisten in der Disco ein. Ö. hatte den Gast noch immer im Würgegriff und ich konnte nicht genau feststellen, wer von beiden röter im Gesicht wurde. Einer der Polizisten nahm sich des anderen Gastes an. Dieser verkannte den Ernst der Lage und schubste einen Polizisten zur Seite und versetzte einem anderen einen kräftigen Tritt. Sekundenbruchteile später wurde er von der restlichen Polizeieinheit mit ein paar Schlägen in die Magengegend bedacht. Einer der beiden Gäste brüllte: „Das hier ist noch nicht zu Ende. Den kriegen wir noch. Wir wissen wo ihr seid. Wir kennen Leute“. Dann schaute er mich an und grinste irre: „Und DU bist der nächste.“ Den Rest der Nacht hielt ich mein Pfefferspray in der Hose fest umklammert.

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