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Twitter-Projekt: Einfach mal komplett anderen Leuten folgen

Illustration: Katharina Bitzl

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Irgendwann stellte Eli Overbey fest, dass er sich eigentlich selbst folgte. Auf Twitter. Seine Freunde aus der High-School-Zeit, die Leute vom College, seine Arbeitskollegen – sie alle verfassten Tweets, die ihm nichts Neues beibrachten. Weil sie aus seiner Welt stammten. Und seine Perspektive auf Geschehnisse nicht veränderten, sondern diese nur bestätigten. Nach einer Analyse seines Twitterprofils stand für den SEO Manager aus Boston fest: „Ich folgte hauptsächlich 25- bis 44-Jährigen mit einem höheren Abschluss. Ich folgte mir.“

Eli Overbeys Erkenntnis brachte ihn dazu, sein bisheriges Verhalten zu hinterfragen. Er wollte etwas von den anderen Usern des Sozialen Netzwerks lernen. Also beschloss er, alle drei Monate seine aktuelle Liste komplett zu löschen und neuen Leuten zu folgen. Overbeys Taktik ist simpel und naheliegend – und liefert einen Denkanstoß. Denn: Viel zu oft bleiben wir im gewohnten Umfeld stecken. Einfach weil es bequem ist. Wir gehen zum selben Bäcker, weil wir den Tipp bekamen, dass der Kaffee dort trinkbarer ist als das Gebräu aus dem Automaten. Wir gehen in dieselben Clubs, weil wir dort schon unsere eigene Tanznische eingerichtet haben. Was aber hindert uns daran, öfter mal über unsere selbst errichteten Mauern zu springen und herauszufinden, was dahinter liegt?

Auf Twitter gibt es 300 Millionen Menschen, die das Geschehen in ihrer Umgebung und in der Welt kommentieren. Das sind 300 Millionen Augenpaare, die Erlebnisse subjektiv wahrnehmen und ins World Wide Web hinauszwitschern. "Jede Sekunde gibt es 6000 Tweets über das Leben, über Erfahrungen, News und Erkenntnisse", schreibt Overbey auf seinem Blog zu seinem Projekt, "die Art etwas zu lernen verändert sich jedes Mal, wenn wir neue Informationen bekommen und Twitter stellt eine Unmenge davon bereit." Und er stellte sich die Fragen: "Was wäre, wenn ich aus den falschen Informationen lerne? Was wäre, wenn ich eigentlich mehr lernen könnte?"

Die Sorge Overbeys, in Strukturen und Denkmustern festzustecken und dabei so viel Anderes zu verpassen, lässt sich leicht auf andere Lebenslagen übertragen. Beim Reisen etwa: Es gibt kaum eine Situation, in der ich mich schneller dabei erwische, an Gewohntem festzuhalten – obwohl ich mir immer das Gegenteil vornehme. In fremden Ländern hat man eigentlich die Chance, sich neue Perspektiven zuzulegen. Und trotzdem scheinen sich die altbekannten Wahrnehmungsmuster in mein Gepäck zu schleichen. Sie verfolgen mich an den Urlaubsort und setzen sich dort als westlich-europäisch verglaste Brille auf meine Nase. Mit dem LonelyPlanet in der Hand laufe ich dann durch die unbekannten Straßen und sehe mir alles an. Aber was ich sehe, ist nicht unvoreingenommen, sondern bereits durch die Informationen aus dem Reiseführer oder vom Auswärtigen Amt vorgefärbt. Es sind Sichtweisen von Bekannten, Freunden, vertrauenswürdigen offiziellen Seiten – und das Neue, Unbekannte, was ich zum Beispiel von den Bewohnern des Landes lernen könnte, geht an mir vorbei. Weil ich meine Infos aus vertrauenswürdigen weil "verifizierten" Quellen beziehe und es mir gar nicht in den Sinn kommt, das zu ändern. 

 

Überhaupt: Die meisten unserer Gewohnheiten sind deshalb entstanden, weil wir sie von unseren Idolen – Eltern, Lehrern, Freunden – vorgelebt bekamen. Wir ahmen nach, anstatt Alternativen zu suchen, weil wir unsere Informationsquellen nicht ändern. Aber was wäre so schrecklich daran, mal einen Umweg auszuprobieren? Einen neuen Weg zu entdecken? Was wäre so schlimm, mal den Reiseführer stecken zu lassen und sich lieber vor Ort Infos zu holen? Oder zu Hause, im Kleinen: seinen Kaffee aus dem Laden zu holen, den man eh schon ewig ausprobieren wollte. Mit Menschen zu diskutieren, von denen man weiß, dass sie nicht die eigene Meinung teilen. Und einem, wie Eli Overbey festgestellt hat, ganz neue Dinge beibringen können.  

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