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"Wir haben den Eindruck, dass man uns für Idioten hält"

Foto: dpa

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Bei den Protesten in Frankreich ist es gestern in Paris erstmals zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Seit dem 31. März verbringen viele junge Menschen ihre Abende und Nächte bei der "Nuit Debout" (Nacht, in der wir aufstehen), in Paris kommen täglich hunderte Protestierende zum Platz der Republik. Camille, 23, ist eine von ihnen. Sie sieht sich als Teil des großen Ganzen, als eines von vielen Gesichtern dieser basisdemokratischen Bewegung und will ihren richtigen Namen deswegen nicht nennen. Camille hat uns erklärt, worum es bei den Protesten geht, wieso besonders viele Jugendliche unter den Demonstranten sind und was das Besondere an der Bewegung ist. 

Jetzt: Warum protestiert ihr jede Nacht auf dem Platz der Republik?

Camille:  Am Anfang war es, um gegen das Gesetz zur Arbeitsreform zu protestieren. Das ist ein Gesetz, das wirklich die Rechte der Arbeitnehmer und der Studenten in Frage stellt und uns in eine prekäre Lage bringt. Es gibt den Arbeitgebern viel mehr Rechte, vor allem im Umgang mit Arbeitszeiten, Bereitschaften und Kündigungen. Für viele von uns ist das einfach ein Rückschritt in der Sozialgesetzgebung in Frankreich. Und dann ist es auch noch eine linke Regierung, die so eine Reform durchbringen will, da hat es vielen einfach gereicht. 

Inzwischen kämpfen wir gegen Diskriminierung, für die Rechte der Flüchtlinge, gegen neue Schulden durch völlig unbrauchbare Projekte der Regierung, für mehr Bildung und Kultur, gegen Sexismus und für die Rechte von Homosexuellen. Das ist eine ganz andere Welt, die sich da gerade in Bewegung setzt in Bezug auf ganz viele Themen. 

Gibt es da nicht die Gefahr, dass sich dann alle Themen vermischen und am Ende nicht Konkretes daraus wird?

Am Anfang haben die Leute hier das befürchtet, aber es hat sich rausgestellt, dass sich alles gut organisiert. Wir gründen durchaus Gruppen hier und kommunizieren das, dann können verschiedene Menschen an einem Thema zusammenarbeiten. Und es gibt auch einige Organisationen und Gewerkschaften, die zu uns kommen und schon ein klar definiertes Projekt haben. Bisher klappt das alles sehr gut.

Gibt es ein Vorbild für eure Bewegung?

Ein paar Spanier haben uns besucht, von der Indignados-Bewegung und auch ein paar US-Amerikaner von Occupy Wall Street. Sie fanden alle, dass unsere Bewegungen sich sehr ähneln und haben uns Tipps gegeben, denn das Ziel ist natürlich schon, dass wir Zulauf bekommen. Wir benutzen Kommunikationsmittel, die sie aufgebaut haben, machen ähnliche gewaltfreie Aktionen.

Was motiviert dich persönlich, zu diesen Demos an der Republik zu gehen?

Ich wollte einfach verhindern, dass dieses Gesetz durchgeht, weil es einmal mehr bedeuten würde, dass man uns nicht zuhört. Es sind sehr viele Menschen dagegen auf die Straße gegangen, ohne großartige Konsequenz. Deshalb war es schön, dass sich so viele Menschen bei Nuit Debout versammelt haben, damit die Dinge anders laufen. Selbst wenn die Bewegung irgendwann ausläuft, weil wir den Platz der Republik nicht für immer okkupieren können. Das Wichtige ist, dass die Menschen sich treffen, anfangen, miteinander zu reden, zu diskutieren und gemeinsame Projekte zu machen. Deshalb mache ich mit, um etwas auf den Weg zu bringen.

Ist das vielleicht das Besondere an eurer Bewegung, der Dialog?

Ja, ich glaube, das ist es, was die Menschen anzieht. Der Augenblick, in dem die meisten Menschen am Platz sind, ist immer dann, wenn wir unsere Versammlung machen, auf der jeder sprechen kann. Ich glaube, die Menschen müssen sich ausdrücken, mit anderen sprechen, die sie verstehen. Ich glaube, dieser Begegnungsaspekt ist ganz wichtig und das macht aus dieser Bewegung etwas ganz Besonderes. 

Diskussionen am Platz der Republik
Foto: dpa

Aber ihr habt keinen richtigen Anführer?

 

Ganz genau. Wir haben keinen Anführer. Es gibt eine kleine Gruppe, die mit der Polizei verhandelt, wenn es nötig ist. Aber ansonsten gibt es keine Führungsperson, auch bei den Versammlungen sind es niemals die gleichen Leute, die sie eröffnen und das Wort ergreifen. Da die Bewegung aber gerade ein größeres Ausmaß annimmt, sind wir vielleicht irgendwann gezwungen, einige Referenten zu bestimmen, die das alles ein bisschen regeln. Wir sind wirklich viele geworden, vielleicht brauchen wir dann irgendwann eine Struktur. Aber eigentlich ist das Grundprinzip, keinen Chef zu haben, der wichtiger ist als die anderen.

 

Ist das nicht etwas Besonderes, eine Demo ohne Anführer?

 

Das ist natürlich richtig. Wir sprechen sehr viel von den Studentenprotesten im Mai '68, das erinnert uns an Augenblicke aus unserer Geschichte. Unter uns Teilnehmern haben wir wirklich das Gefühl einen historischen Moment zu erleben. Wir sind so viele, ohne dass uns jemand aufgerufen hat, ohne Anführer.

 

Warum sind so viele Jugendliche dort?

 

Das System, in dem wir leben, ist super ertragreich für einige, aber eine große Menge wird vernachlässigt. Ich gehöre auch dazu. Ich bin relativ jung, suche Arbeit, ich habe studiert und finde trotzdem überhaupt nichts. Ich glaube, das ist eine allgemeine Unzufriedenheit. Wir fühlen uns missverstanden, wir haben den Eindruck, dass man uns für Idioten hält.

 

Wer hält euch denn für Idioten?

 

Ich habe da vor allem an die Politik gedacht und an die großen Businessmänner, die riesige Projekte verwalten, die Chefs der Gewerkschaften, die mit der Lobby zusammenhängen - die Mächtigen eben. Präsident Hollande hat natürlich ein großes Interesse daran, zu sagen, dass er uns zuhört. Unsere Bewegung hat eine gewisse Reichweite angenommen und ich glaube, die Politiker bekommen gerade etwas Angst. Die wissen nicht, was sie mit uns anfangen sollen. Auf der einen Seite sind sie nicht bereit uns das zu geben, was wir fordern, auf der anderen Seite hören wir dann auch nicht auf, zu demonstrieren.

 

Wir haben Hollande gestern aufgefordert - er hat das wahrscheinlich nicht mitbekommen - zum Platz der Republik zu kommen und mit uns zu diskutieren. Wir fänden das super, wenn er kommt und sich unseren Fragen stellt. Er sagt: „Wir haben ein offenes Ohr für die Jugend“, aber im Endeffekt, im direkten Kontakt, passiert nicht viel. Beim Arbeitsgesetz ist es das Gleiche. Sie machen kleine Änderungen, aber das ändert die ganze Grundlage nicht, das reicht nicht.

 

 

Wie siehst du die Situation der französischen Jugend in Europa?

 

Ich würde nicht sagen, dass unsere Situation schlechter ist als in anderen Ländern Europas. In Griechenland zum Beispiel ist es auch nicht super. Die Menschen dort leiden auch sehr unter der Arbeitslosigkeit. Unsere Situation ist nicht schlimmer als in anderen Ländern. In Frankreich haben wir eine starke Protest- und Besetzerkultur. Hier gibt es schnell mal einen Streik. Vielleicht spielt das auch eine Rolle. Außerdem haben wir eine starke Immigration in unserem Land und es hat nicht so richtig geklappt, dass sich die Gruppen in der Gesellschaft vermischen. Heute haben wir hier bei Nuit Debout viele Jugendliche aus ganz unterschiedlichen Regionen, die sich zusammentun. Gerade im Hinblick auf die Flüchtlingskrise ist das wichtig. Es funktioniert in dem Moment, wo wir alle das Ziel haben, ein freieres Leben zu leben. Übrigens hat sich die Nuit Debout weiter verbreitet, nach Spanien und Belgien. Ich glaube, wir sind eigentlich alle am gleichen Punkt.

 

Wann habt ihr bei Nuit Debout euer Ziel erreicht?

 

Alles hat mit dem Arbeitsgesetz angefangen, also ist unser Ziel erstmal, dass das nicht verabschiedet wird. Das wäre wirklich ein enormer Erfolg. Wir haben aber auch eine tolle Dynamik geschaffen, wir sind alle auf die Straße gegangen und wissen, dass wir das wiederholen können. Zu wissen, dass alle auf der Straße sind, sobald es notwendig ist. Und das ist in meinen Augen viel wichtiger als das Gesetz. Davon werden nämlich noch weitere kommen und dann müssen wir uns wieder mobilisieren. Wenn wir es wirklich schaffen, diese Dynamik, Solidarität und den Austausch untereinander aufrecht zu erhalten, dann haben wir gewonnen.

 

 

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