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Im Hedonistenheim: Durch Cambridge mit dem jungen Autor Ivo Stourton

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"Vor einigen Tagen habe ich eine Rechnung über 8000 Pfund vom Club bekommen", sagt Ivo Stourton und grinst. Stourton ist blond, misst zwei Meter und steht unter den schneeweißen klassizistischen Säulen vor der Eingangstür zum exklusiven University Pitt Club. Der kleine Tempel in der Jesus Lane beherbergt eine beliebte Edel-Pizzeria, links daneben befindet sich der unscheinbare Zugang zum Club im ersten Stock. Aber auf den 1819 zur Erinnerung an den genialen Premier William Pitt gegründeten Pitt Club verweist kein einziges Schild - man will ja schließlich unter sich bleiben. Die verspätete Rechnung für vier Jahre zuvor konsumierten Schampus sei sehr nobel zu seinen Gunsten geschätzt worden und viel zu niedrig ausgefallen, erläutert Stourton: "Wir hatten nämlich während der Studentenzeit den Champagner mit unseren Gästen meistens aus Kübeln getrunken und die Beträge nur sporadisch anschreiben lassen - unser Motto lautete schlicht: Bibo ergo sum - ich trinke, also bin ich. Während meiner drei Jahre am Corpus Christi College hatten wir uns nie um eine reguläre Buchführung gekümmert, wir interessierten uns nicht für die Niederungen profaner Kleinkrämerei." Auch der Cambridge-Absolvent Pitt war ja kein Kostverächter gewesen, allerdings hatte ihm sein Arzt damals die tägliche Flasche Portwein verordnet - damit sollten gefährliche Keime abgetötet werden.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Auch wenn Evelyn Waughs berühmter Roman „Wiedersehen mit Brideshead“ in Oxford spielt und der Champagner trinkende Anti-Held Sebastian Flyte ein aristokratischer Katholik ist, scheint das dekadent-elitäre "Brideshead"-Ambiente bei unserem Rundgang durch Cambridge immer gegenwärtig zu sein. Vor allem die nostalgische Rückbesinnung auf seine Studentenzeit in Oxford, die melancholischen Impressionen von Ausflügen mit Sebastian, in denen der Erzähler Charles Ryder schwelgt, ja selbst seine Kommentare scheinen ebenfalls für Stourtons "Nachtgänger" zu gelten: "Es war, als würde ich zum ersten Mal eine glückliche Kindheit genießen", meint Ryder an einer Stelle. Ivo Stourton hat die nostalgische Suche seiner Romanfiguren nach einer glücklichen Kindheit und das exzessive Auskosten intensiver Rauschzustände in seinem Campus-Roman zum Leitmotiv gemacht. Sein Protagonist Francis, unehelicher Sohn eines vermögenden Lords und eines Models aus Zimbabwe, ist eine ebenso schillernde wie charismatische Figur, die den Ich-Erzähler James in seinen Bann zieht. Zur exklusiven Studenten-Clique um den großzügigen, lebenslustigen Francis möchte James unbedingt gehören - diese Initiation in den erlesenen Kreis wird für ihn zur existentiellen Frage. James muß aber erkennen, dass die ins Kriminelle abdriftende Gruppe mit ihren grotesken Exzessen auch seine eigene Identität in Frage stellt. Wir besichtigen anlässlich der Veröffentlichung der "Nachtgänger" die wichtigsten Schauplätze, an denen sich die hedonistische Truppe um Francis in Cambridge am liebsten tummelt. Der Club nimmt dabei neben Stourtons altem College Corpus Christi (im Buch Tudor College genannt) einen Spitzenplatz ein. Beim Rundgang durch die Clubräume begleitet uns das kuriose Faktotum Michael - ein kleiner, freundlicher Mann mit einer schmucken Weste, dessen Augen hinter der Brille schalkhaft aufblitzen. "Er ist etwas verrückt und hat hier selbst während der Ferien Wahnsinns-Orgien veranstaltet", meint Stourton bei unserer Tour. Michaels Erklärung für einen Wasserschaden im Club, den er selbst verursacht hatte, wurde zum geflügelten Wort: "To be honest, Sir, it was the pigeons." In den Club geflatterte Tauben sollen die Wasserhähne im Badezimmer aufgedreht haben. Nun sondert der Club-Steward die neuesten, leider nicht sehr erbaulichen Tratschgeschichten ab, denn offenbar treibt es die akademische Jugend jetzt noch bunter als früher: Das kostbare, uralte Silberbesteck ist weiter dezimiert, alle Gläser sind verschwunden und Teile des antiken Porzellans sind zerdeppert. Immerhin ist der riesige Esstisch mit den verblüffend echt wirkenden, aus Eiche geschnitzten Pferdefüßen nur leicht verschrammt und die Gruppenphotos mit den Club-Präsidenten der letzten Jahre, auf denen Ivo Stourton als "Minister for Entertainment" zu bewundern ist, sind noch intakt. Nun soll ein Kontrollgremium die Club-Aktivitäten überwachen, jeder Drink muß ab sofort bar bezahlt werden. Eigentlich ein Skandal, denn seit der Club-Gründung 1819 hat es so etwas noch nie gegeben. Wo bleibt da das Vertrauen unter Gentlemen?


Hier hängen noch Gemälde mit Porträts von Premier William Pitt (1759-1806), einem der berühmtesten Cambridge-Absolventen. Er begann sein Studium mit 14, graduierte mit 17 und hatte es im stolzen Alter von 24 geschafft, Premierminister zu werden - bis heute der jüngste des Königreichs. Und der energische Reformer der East India Company, ein entschiedener Kritiker königlicher Verschwendungssucht und Korruption sowie Gegner der Sklaverei hielt durch, obwohl ihm seine spöttischen Kritiker nur etliche Monate Amtszeit prophezeiten. Pitt regierte siebzehn Jahre lang, hatte sein Kabinett mit vielen ehemaligen Studienfreunden besetzt und handelte nach der Devise: Nicht in der zweiten Reihe dienen, sondern selbst an der Spitze lenken und regieren - daher lehnte er konsequent untergeordnete Ministerposten ab und wartete lieber ab, bis er zum Premier ernannt wurde.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

In "Die Nachtgänger" trifft sich das snobistische Studentenquartett Francis, Jessica, Lisa und der Ich-Erzähler James am liebsten in diesem stilvollen Ambiente. Hier kann man Wetten beim Boxkampf platzieren, sich mit Champagner vollaufen lassen und sicher sein, die richtigen, wichtigen und interessanten Leute zu treffen - der Club ist der soziale Drehpunkt. Die Clique klettert nachts über die College-Dächer, weil sie sich nicht an herkömmliche Regeln halten will und vorgeschriebene Ausgehzeiten für lächerlich hält. Um Strafen und Verfolgung durch die Proctors (College-Polizei) zu vermeiden, werden sie also zu "Nightclimbers". Ihre snobistische Attitüde bezieht auch eine Verachtung für das ackernde Fußvolk ein, das es mit fleißigem Büffeln zu Examens-Ehren bringen will. Die Clique um den reichen Francis, der seine Freunde vom üppigen Scheck seines Vaters profitieren lässt, geht dazu über, sich alle erforderlichen Referate fertig ausgearbeitet für einige Pfund an der Seminarbörse zu kaufen. Für sie besteht das Studium letztlich nur noch aus der Suche nach dem ultimativen Kick. Erst nachdem James das Dolce Vita bis zum Extrem ausgekostet hat und eine existentielle Krise bewältigt, kommt der Ich-Erzähler zur Besinnung. Er isoliert sich nach Francis' Selbstmord von der Clique und wird nach absolviertem Studium ein erfolgreicher Anwalt in der City. Mit seinem Erzähler James verbinden Stourton viele Gemeinsamkeiten. Vor vier Jahren hatte der Eton-Absolvent Ivo Stourton, Sohn des prominenten BBC-TV-Reporters Edward Stourton, sein Studium der Englischen Literatur mit einem "Double First"-Abschluß beendet, dann ein Jura-Studium in London absolviert, anschließend seinen Roman "The Nightwalkers" und einen Ratgeber für Oxbridge-Absolventen veröffentlicht. Schon als 17Jähriger hatte er das Vietnam-Stück "Kassandra" verfasst, das beim Edinburgh-Festival uraufgeführt wurde und in dem er mitspielte. In diesen Tagen ist Stourton nun als Anwalt für Europarecht in eine große Londoner Kanzlei eingetreten: "Das ist natürlich eine große Umstellung, für mich aber sehr spannend", freut er sich.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

In Stourtons Roman geht es noch wilder zu, die Clique genießt die Verfolgungsjagden mit den Proctors, die Herrschaften verprassen das von Francis spendierte Geld und agieren in einem nihilistischen Vakuum. Doch als Francis nach einem peinlichen öffentlichen Disput mit seinem Vater der Scheck gesperrt wird und das Dolce Vita ein Ende findet, gerät die Clique auf kriminelle Abwege: Jetzt soll sich der Ich-Ezähler James als Künstler betätigen und einen vom College ausgeliehenen Picasso fälschen. Die geschickte Finanzjongleurin Lisa hat bereits einen Investor ausfindig gemacht, der den Picasso für vier Millionen Pfund übernehmen möchte. Die Kopie wird dann einfach ans College zurückgegeben - fertig ist der Millionen-Coup. Den erfolgreichen Deal feiert das Quartett mit einer orgiastischen Jubelfeier mit Koks, Champagner und einem flotten Dreier. Da scheint die Welt der Glücksritter fast ins Nirwana zu entschweben: "Endlich hatten wir uns das Paradies zurückerobert, in dem wir das erste Trimester verbracht hatten", berichtet James, "und allmählich wagte ich zu glauben, dass das alles wirklich wahr war und dass es von nun an wieder so sein würde wie früher - wie damals, als wir noch glücklich gewesen waren." Doch nach diesem euphorischen Schub gerät vieles außer Kontrolle. Für Francis wird das Koma zum Dauerzustand, sein Selbstmord wird für James schließlich zum schockierenden Erweckungserlebnis. Er sondert sich von der Gruppe ab, kümmert sich wieder ernsthaft um sein Studium und wird Anwalt in London. Auch Jessica, die er nach dem Studium wieder trifft, erkennt nun: "Wir kreisten nur um uns selbst und hielten uns für den Nabel der Welt."


Am berühmten Senate House, dem Prüfungs-und Verwaltungsgebäude mit einem Flachdach, das im Roman für das Kletter-Quartett eine besondere Rolle spielt, blicken wir in der engen Passage auf das höhere, über zwei Meter entfernt liegende Dach des Caius College, von dem die Gruppe todesmutig hinunterspringt, um sich vor dem Zugriff durch die Proctors zu retten. Im Innenhof des kleinen Corpus Christi College stehen wir schließlich neben einer Gedenktafel für die berühmtesten Absolventen, die beiden Dramatiker Christopher Marlowe (1564-93) und John Fletcher (1579-1625). Als Stourton sich die Regenrinnen, Mauervorsprünge und Blitzableiter an seinem alten College betrachtet, meint er: „Das alles stellt für ernsthafte Kletterer natürlich keine echte Herausforderung dar, auch die eisernen Zacken wirken nicht abschreckend." Er habe sich auch gelegentlich als Nachtkletterer betätigt, "aber damals war ich ziemlich angetrunken und habe diese Klettertouren aufgegeben, als ich dann im nüchternen Zustand realisierte, wie lebensgefährlich sie waren."

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das Klettern hat Tradition, in dem 1899 veröffentlichten populären Führer "The Roof Climbers´Guide" von Geoffrey Winthrop Young werden die beliebtesten Touren hoch über den Dächern von Cambridge beschrieben. Für Stourton lieferte die Lektüre den Anstoß zur näheren Beschäftigung mit dem Kletter- Phänomen und veranlasste ihn letztlich zum Schreiben seines Romans. Abends sitzen wir beim Bier. "Bisher bin ich vom Leben nicht gerade schlecht behandelt worden", erklärt Ivo mit mildem Lächeln. Die Affinität zu seinem Ich-Erzähler James will er keineswegs verleugnen: "Ich habe ja auch, wie James, nach der Zeit in Eton das Studentenleben in Cambridge als große Hedonisten-Spielwiese betrachtet und während der ersten Trimester nur das absolute akademische Minimum erfüllt", gesteht er. "Aber dann hat es mir einfach mehr Spaß gemacht, mit eigenen Erfolgserlebnissen Anerkennung einzuheimsen als mit lächerlichem adoleszentem Gehabe." Er braucht offenbar immer neue Herausforderungen: Neben seinem Anwaltsjob schreibt er bereits am neuen Roman, außerdem ist er noch in den USA auf Reisen, um dort für seine "Nachtgänger" zu werben. Er wollte immer schon hoch hinaus, dieser jungen Nachtgänger, Glückssucher und Autor. Stourton wagte den großen literarischen Sprung mit einem Spagat zwischen traditionellem Campus- und modernem, gesellschaftskritischen Schelmen-Roman. Ihm ist, trotz einiger blumiger verbaler Ausschweifungen, ein großer Wurf gelungen. Ivo Stourton: Die Nachtgänger. Übers. v. Karin Dufner. Droemer, 398 S., Fr. 34, 90

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