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Sotheby's in klein: Ortstermin bei einer Radversteigerung in München

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Vor dem Fundbüro in der Oetztaler Straße 19 warten um kurz nach halb neun schon über 70 Menschen auf den Beginn der Fahrradversteigerung. Studenten, Rentner, Väter mit ihren Söhnen, Pärchen, Schüler, Geschäftsfrauen, Singles. Auch Touristen. Das Lehrerehepaar Senta und Wolfgang kommt aus Husum. Räder haben sie allerdings schon. „Vom Norden bis nach München haben wir nur zwölf Tage gebraucht.“ Wolfgang betont das „nur zwölf“ stolz wie ein Tour-de-France-Sieger und klopft gegen die riesigen Seitentaschen auf seinem Gepäckträger. „Mehr als da reinpasst, braucht man nicht.“ Die Lampe von Sentas Rad ist bei einem Sturz kaputt gegangen. „Vielleicht können wir hier eine neue abstauben.“ Doch neu ist hier kaum etwas. Im Hinterhof sammelt sich die Menge vor einem LKW mit aufgeschlagener Plane. Auf der Ladefläche steht ein Rednerpult mit Mikrofon. Ein spartanisches Sotheby’s. Wer den Ablauf hier schon kennt, hat bereits um kurz nach acht Uhr die Räder im Keller des Fundbüros begutachtet und die Nummern interessanter Fundstücke notiert. In einem schlauchartigen Raum ohne Fenster stehen sie vor der Versteigerung in drei Reihen: Mountainbikes, Hollandflitzer und Rennräder, wahlweise zusammenklappbar, für Damen, Herren und Kinder, mit oder ohne Korb, Naben- oder Kettenschaltung. Die meisten sind alt oder älter. Wer glaubt, hier gäbe es moderne, rundlaufende Second-Hand-Bikes für ein paar Euro, erwacht schon kurz nach Versteigerungsbeginn aus seinem Tagtraum. Billiger wird’s nicht Draußen steigt eine Frau in Karohemd und schwarzer Lederweste auf den LKW, und spricht ins Mikrofon. „Test, Test, Test“, kreischt es durch die wummernden Boxen, die auf hohen Stelzen neben dem Fahrzeug stehen. Die Menge grummelt, jemand ruft: „Scheiß Rückkopplung, Mann!“ Die Frau liest verunsichert von ihren Zetteln ab: „Erst versteigern wir Damenräder, dann Kinder, zum Schluss Herren. Ab 14 Uhr gibt es einen Bastelbasar für Einzelteile.“ Solange wollen Senta und Wolfgang nicht warten. Sie drücken sich und ihre Räder durch die Menge zum Ausgang. Mittlerweile steht man Schulter an Schulter auf dem Hinterhof, die Menge reiht sich bis draußen auf die Straße. Um überhaupt die Bühne zu sehen, klettern einige aufs Baugerüst vor dem Haus gegenüber.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sina ist aufgeregt. Sie hat vor einigen Wochen leicht angetrunken ihr Rad auf einer Party vergessen. Am nächsten Morgen konnte sich die 23-jährige Pädagogikstudentin nicht mehr erinnern, wo sie es angeschlossen hatte. „So einen Klapperkasten klaut niemand. Vielleicht hat die Stadtreinigung es eingesammelt und hier abgeliefert.“ Vielleicht. Sina würde für das Rad ohne Gangschaltung ihr ganzes Herzblut geben, heißt: 150 Euro bezahlen. „War zwar kein Erbstück, aber ein Geschenk.“ Doch nicht jeder ist bereit, einen dreistelligen Geldbetrag gegen ein gebrauchtes Rad zu tauschen. Nachdem Nummer eins – ein Damenrad Marke Diamant, Modell Olympia ’72 – für 56 Euro an eine zierliche Schwarzhaarige mit gelber Baskenmütze verkauft wurde, verlassen die ersten Schnäppchen-Amateure enttäuscht das Gelände. Zu teuer. Die Karohemd-Dame auf der Hebebühne hatte es gesagt: Am Anfang kommen immer die schlechtesten Fahrräder. Nummer zwei geht für 62 Euro weg, Nummer drei für 84 Euro, Nummer vier für 98. Ein alter Mann mit Glatze echauffiert sich dröhnend: „Dafür kriegt man ja schon ein neues!“ Die Räder werden teurer und Sinas Hoffnung kleiner. „Die sind schon bei 250 Euro. Da ist meins bestimmt nicht mehr dabei. “ Die Studentin will nun Anzeige gegen Unbekannt erstatten. Das Polizeirevier ist gleich nebenan. Vor der Einfahrt zum Hinterhof fangen private Händler enttäuschte Mitbieter ab. „Rad für nich sofiel“, steht auf der braunen Pappe, die der türkische Gebrauchtradverkäufer hochhält. Dann macht hier wenigstens einer noch ein gutes Geschäft.

Text: julia-finger - Illustration: Katharina Bitzl

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