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Polarnacht: Eine neue Kolumne aus dem hohen Norden

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Woche 1 Temperatur: zwischen 0 und -5 Grad Schneehöhe: 10-20 cm Stimmung: gespannt Schokoladenkonsum: zwei Tafeln, drei Tassen, ein Blech Brownies

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die nordnorwegische Aussicht vom Fenster aus an einem Wintermittag. Was treibt jemanden dazu, sein altes Leben aufzugeben und in die Arktis zu ziehen? Wie kommt man auf so eine Idee, und wie setzt man sie in die Tat um? Bei mir ging das ungefähr so: 1. Eine große Leidenschaft

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Am Meer direkt unterhalb des Hauses. Dieser ganzen Schwärmerei von karibischen Inseln, von Südamerika oder Australien konnte ich nie etwas abgewinnen. Mich hat es schon immer in den Norden gezogen, wo die Sommer nicht so heiß und die Winter richtig winterlich waren. Seit ich vor fünf Jahren für zwei Erasmus-Semester nach Island gekommen war, gab es keinen Weg zurück. Ich blieb dort und bezahlte für meine Entscheidung mit dem Studium, das ich außerhalb Deutschlands nicht fortsetzen konnte. Ich zog weiter nach Finnland, und träumte heimlich immer wieder davon, einmal nördlich des Polarkreises zu leben und die Natur und indigenen Völker der Arktis zu studieren. 2. Ein glücklicher Zufall

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Illustration: Julia Schubert

An einem frühen Augustmorgen auf See. Letzten Juni lernte ich Lars kennen. Er hatte gerade in Tromsø ein altes Segelboot gekauft und bot in meiner liebsten "Couchsurfing"-Community bewelcome.org kostenloses Mitsegeln im Gegenzug für Hilfe bei Reparaturen und Instandhaltung an. Ich verlegte sofort meinen Sommerurlaub dorthin. Als ich in Tromsø aus dem Bus stieg, die Seeluft in der Nase, die kleinen bunten Häuschen und das unerwartete Grün um mich herum, wollte ich sofort dableiben. Als ich dann bei Lars ankam, in seinem umfunktionierten Sommerhäuschen mit Camping-Toilette, chaotischer Einrichtung, offenem Kamin, Saunahütte, Wäldchen, Blaubeeren und Meerblick, war ich hin und weg. Genau hier will ich leben, dachte ich. Und dann erwähnte Lars beiläufig, daß er gerade mit seiner Familie nach Oslo zog und jemanden suchte, der das Haus trotz des fehlenden Luxus und sehr viel hinterlassenen Gerümpels billig mieten wollte. 3. Eine gute Portion Spontaneität Ich sah ihn mit großen Augen an und fragte, ob er es an mich vermieten würde. Er lächelte hinter seinem Bart hervor und sagte schlicht "ja". Am gleichen Abend füllte er einen Mietvertrag aus, und ich hörte mich sagen "Ok, dann bin ich in drei Wochen wieder hier". Ich hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, ab nächstem Herbst in Tromsø Biologie zu studieren, und mich auf arktische Ökosysteme zu spezialisieren - warum nicht schon früher kommen? Diese Chance mußte ich nutzen. 4. Ein überstürzter Aufbruch

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Illustration: Julia Schubert

Der Blick aus dem Busfenster unterwegs durch Lappland. Drei Wochen hatte ich also, um nach zwei Jahren in Helsinki meine Zelte abzubrechen. Freunde, Kollegen, sogar die Chefin, waren entsetzt und traurig. Ich arbeitete fast bis zum Schluss, schrieb und telefonierte mit der Vermieterin und potentiellen Nachmietern, wühlte mich durch meine bescheidenen Besitztümer, saß bedrückt in Cafes und in WG-Küchen, aber freute mich auch gewaltig. Freunde und Familie in Deutschland und in anderen Ländern hatten kaum von meinen Plänen mitbekommen, geschweige denn diese ernst genommen, und waren sehr überrascht, als ich beiläufig erzählte, dass ich gerade meine Sachen packte. "Was, du ziehst da jetzt wirklich hin?!" - da hatte ich schon den Bus rausgesucht, der mich innerhalb von 22 Stunden über Nordfinnland und an der schwedischen Grenze entlang in meine neue Heimat bringen sollte. Allerdings hatte ich völlig unterschätzt, wie viele Klamotten, Handtücher, Küchenutensilien, Werkzeuge, Teesorten und Krimskrams ich dann doch angesammelt hatte. Ich stand kurz vor dem Nervenzusammenbruch, als ich meine perfekte Nachmieterin traf - eine zierliche, sehr entspannte Gender-Studies-Studentin und Schlagzeugerin in einer Death-Metal-Band, die den Großteil meiner Einrichtung übernehmen wollte und mich die meisten meiner anderen Sachen in der großen Abstellkammer zwischenlagern ließ. Ich packte hastig ein paar Klamotten, Bücher, Kosmetika, meine Lieblingstasse und das gute Madras-Currypulver aus dem Asia-Laden, und teilte noch ein paar Runden Sauna und leipäjuusto ja lakkahillo (eine finnische Käsespezialität mit Multebeermarmelade) mit meinem Lieblingsfinnen. Anfang August stand ich dann wieder in Tromsø - dieses Mal mit meinem großen Trekking-Rucksack, einem Reisekoffer und dem wilden Entschluß, hierzubleiben. 5. Mein neues Leben

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das ist es: Mein neues Zuhause. Die ersten paar Wochen fühlten sich unwirklich an. Mein Blick schweifte immer wieder von den schicken Holzwänden über die norwegische Flagge zum Fenster mit den Birken, dem Meer und den Bergen. Es dauerte ein paar Wochen, bis ich richtig begriff, daß ich hier nicht mehr im Urlaub war, sondern im Alltag, dass auch die billigste Miete gezahlt werden muss und alles andere hier alles andere als billig ist. Auf dem Arbeitsmarkt wurden mir, die ich weder über eine Ausbildung noch über fließende Norwegischkenntnisse verfüge, sehr schlechte Chancen prophezeit, also gab ich mich vorläufig mit einem kleinen Putzjob zufrieden. Dazu arbeite ich als freiberufliche Übersetzerin und schreibe ein bisschen. Ansonsten verbringe ich meine Tage inzwischen vor allem mit Schneeschippen. 6. Die Aussichten für die kommenden Wochen

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Illustration: Julia Schubert

Aussicht vom Fenster in einer Sommernacht. Düster. Als ich hier ankam, wurde es nie ganz dunkel, aber mit jedem Tag schlich sich das Licht etwas weiter gen Süden. Nun steht uns die mørketid bevor, die Polarnacht. Von diesem Sonntag an wird es die Sonne nicht mehr über den Horizont schaffen, und sie wird sich erst Ende Januar wieder blicken lassen. "Aber was machst Du da im Winter?", hatten mich meine Familie und Freunde in Deutschland mit sorgenvollen Gesichtern gefragt, als sich ihr Schock bzw. (je nach Person) Neid etwas gelegt hatte. Ja, was werde ich machen? Wenn die Kälte durch die notdürftig isolierten Holzwände kriecht. Wenn die Winterstürme um mich pfeifen und ich durch den Schnee stapfen muss, um aufs Klo zu kommen. Wie wird es mir gehen, alleine in diesem einsamen Haus, wenn für zwei Monate die Sonne nicht aufgehen wird? Was ist das überhaupt für ein Leben, hier "oben"? Davon will ich hier erzählen, in der Polarnacht-Kolumne.

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