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Mein Leben nach dem Polaroid. Heute mit Tammy, Tom und Hannah

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Tom, 26

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich kann mich sehr gut an das Polaroid erinnern. Es wurde im Sommer vor zwei Jahren während eines Festivals in Budapest gemacht. Ich und mein italienischer Freund fuhren von Triest mit einem Van nach Budapest. Wir beschlossen damals, den ganzen Sommer mit Tanzen im Sonnenschein zu verbringen. Es war ein Sommer voll mit Erfahrungen, die noch weitergingen, auch nach unserem Zurückkommen nach London. Nach dem Sommer bist du in unsere WG eingezogen, ich habe meinen BA in Kunst gemacht und war Teil einer Gruppe, die das Reisecafe Cafecairo für Festivals und dergleichen entwickelte. Und ich arbeitete als eine Art Bühnenschreiner für ein paar Theater in London. Es war eine sehr interessante Zeit, in der ich in unglaublich viele und unterschiedliche Leute kennenlernte. Viel besser als das echte Leben! Vor kurzem fand ich das Zitat „Ich bin ein Teil von Allen, die ich treffe. Und die ganzen Erlebnisse sind wie eine Arche, die mich immer auffängt wenn ich durch ungewisse Wasser fahre.“ Dieser Satz ist für mich eine perfekte Hommage an die unglaublichen Momente, die ich in meinem Leben hatte und mit anderen Menschen teilte. Jeder, den ich getroffen habe ist einzigartig und durch diese Menschen werde ich all jene Menschen besser verstehen, die ich erst treffe. Im Moment lebe ich in Palawan, einem Paradies auf den Philippinen. Dort ist mein Bruder mit seinem Partner und einer großen Anzahl von Schreinern und Handwerkern. Dort versuche ich im Rahmen eines Projekts ein verlassenes Dorf zu retten. Dieser Ort und mein Leben jetzt sind unglaublich weit entfernt von dem Moment, in dem das Polaroid gemacht wurde. Ende des Jahres erwarten wir die ersten Reisenden, die Lust haben, mit uns auf Reisen zu gehen und in entlegenen Dörfern auf den Philippinen zu übernachten. Ich glaube, in der Zeit seit dem Polaroid habe ich mich ziemlich entwickelt aber nicht wirklich geändert. Aber das Schöne ist, dass ich mit dem Polaroid jetzt eine Reise in die Vergangenheit machen durfte.


Tammy, 28

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Eigentlich mochte ich es nie, wenn Menschen Fotos von mir machten. Als ich das Bild sah, hatte ich das Gefühl, in mich selber zusammenzufallen und mich für mein Dasein entschuldigen zu müssen ... Das Bild wurde an meiner letzten Arbeitsstelle gemacht. Damals war ich 26. Meine Gesundheit war zu dieser Zeit schon angeschlagen. Als ich dann den Job aufgab und einem blinden Schüler beim Abitur half, wurde die Krankheit immer schlimmer. Es war so schlimm, dass mein Arzt mich krank schreiben musste da bei mir ME diagnostiziert wurde (Chronic Fatigue Syndrom). ME heißt, dass ich schnell mit Sachen überfordert bin. Meine Therapie lehrte mich, alles in kleinen Schritten zu tun und zu sehen. Zum Beispiel eine Tasse Tee machen, über etwas nachdenken, über einen Witz lachen. Ich sollte alles nur für sich selbst sehen. Damals dachte ich aber noch nicht so und deswegen war alles viel zu anstrengend. Im Supermarkt einkaufen war eine einzige Katastrophe. Ich konnte mich nicht mehr an die Sachen erinnern, die ich einkaufen wollte und selbst wenn es auf meinem Zettel stand, konnte ich mich nicht daran erinnern, was eine Zitrone ist. Nachdem die Krankheit festgestellt worden war, habe ich erstmal alles aufgegeben. Arbeit, Freunde, Unterrichten. In meiner Familie ist es üblich, immer zu arbeiten und ohne Arbeit fühlt man sich alleine und wertlos. Während der Zeit des Nichtarbeitens habe ich über fünf Kilo Gewicht verloren. Ich habe meine damalige Beziehung beendet und bin wieder zu meinem Vater gezogen. Zu dieser Zeit hatte mein Vater einen ehemaligen Drogenabhängigen bei sich, der jeden Morgen um fünf Uhr zum Meditieren aufstand. Ich fing an, mit ihm zusammen zu kochen und in der Küche zu sitzen und über das Leben zu philosophieren. Ich war auf der Suche nach mir selbst. Mittlerweile habe ich wieder ein bisschen zugenommen und auch an Selbstvertrauen gewonnen. Ich kann auch wieder Menschen sehen. Ich glaube, die Krankheit war nicht ohne Grund da. Krank sein hat mir sehr viele einfache Dinge gelehrt. Zum Beispiel, dass es wichtig ist, auf sich zu achten. Ich weiß, dass meine Geschichte noch nicht fertig ist und die populärsten sind die, die gut ausgehen, aber meine ist leider noch nicht fertig. Ich vertraue mir selbst heute mehr als früher. Das ist ein guter Ausgangspunkt für neue Dinge. Übrigens habe ich mittlerweile auch kein Problem mehr damit, wenn Menschen ein Foto von mir machen.


Hannah, 26

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich kann mich genau an den Moment erinnern, als ich meine E-mail-Adresse und das Geburtsdatum auf das Polaroid draufgeschrieben habe. Wahrscheinlich war es an dem Tag, an dem ich nach Hause geflogen bin und du bei mir in der Wohnung vorbei kamst, weil Du noch ein paar Tage bei mir geschlafen hast! Ich war 26 - wie jetzt, ist ja erst ein paar Monate her. Im Hintergrund kann man meine Küche in Moskau sehen, wo ich zu dieser Zeit gerade frisch als Redakteurin bei der deutschen Zeitung angefangen hatte. Es war Winter 2008 und ich glaube, ich war ziemlich müde, weil wir die Wochen zuvor sehr viel Arbeit hatten, einen stressigen Redaktionsschluss, nicht alle meiner Kollegen waren da, dazu hatten wir Betriebsjubiläum - viel zu viel Stress für meinen Geschmack. Ich arbeite bei der Zeitung, weil ich nach meinem Uniabschluss im Herbst 2008 unbedingt nach Russland wollte. Außerdem wollte ich als Journalistin arbeiten. Die Arbeit bei der deutschen Zeitung war die ideale Möglichkeit, beides zu kombinieren. Außerdem wollte ich einfach raus, Abenteuer erleben - und habe ohne lang zu zögern die Stelle in Moskau angenommen. Kurz nach der Entstehung des Polaroids war ich drei Wochen in Deutschland - meine Familie, meine Freunde, meinen Freund wiedersehen, Weihnachten und Silvester feiern. Im Januar bin ich dann schweren Herzens wieder nach Russland gefahren. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so Heimweh haben würde. Im April ging's dann wieder nach Deutschland - diesmal für fünf Wochen. Jetzt bin ich seit kurzem wieder in Moskau, arbeite immer noch bei der Zeitung und warte, dass es auch hier endlich Sommer wird. Ich plane mit meinem Freund eine Reise nach St. Petersburg. Dort habe ich mal ein halbes Jahr gewohnt, bald sind dort die weißen Nächte. Zu der Zeit habe ich mich endgültig und rettungslos in Russland verliebt. Ich will, dass mein Freund das alles sieht - bisher kennt er nur Moskau im Winter, was nicht sehr einladend ist. Es gibt den wie ich finde sehr schönen, sehr wahren Satz: "In der heutigen Zeit ist es viel wichtiger, jemanden zu haben, der einem emotional nahe ist, als räumlich nahe." Das sage ich mir heute noch manchmal, wenn mir meine Fernbeziehung auf die Nerven geht, wenn ich meinen Freund vermisse und mir plötzlich wünsche, dass ich weniger postmodern und mehr 50er Jahre wäre. Zu Beginn meines Aufenthalts war ich häufig noch ziemlich überfordert von der Arbeit und ich war mir gar nicht sicher, ob ich alles schaffen kann, was ich mir vorgenommen hatte. Heute bin ich viel ausgeglichener und routinierter - der Praxisschock nach dem Studium ist wohl überwunden. Zu diesem Zeitpunkt zurück möchte ich eigentlich nicht. Es waren sehr schwere Monate - Studium gerade beendet, neue Stadt, erster Job, weit weg von zu Hause, tägliches Chaos in der Arbeit, ungewisse Zukunft. Heute weiß ich hingegen, dass sich die ganze Mühe gelohnt hat. Außerdem bleibt mir inzwischen endlich neben der Arbeit auch noch Zeit, die tolle Stadt zu genießen, auszugehen, zu reisen - alles Dinge, für die ich im Winter keine Zeit hatte.

Text: evi-lemberger - Fotos: el

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