Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

"Ich bin für den Brexit mitverantwortlich"

Foto: Mary Turner/ Getty Images

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Selbst als die Wahllokale am Donnerstagabend schlossen, blieb die politische Kurzsichtigkeit der Großstadtbewohner genauso ausgeprägt wie immer. Die Banker in der Londoner City ebenso wie die Buchmacher waren sich sicher, dass die Nation auf ihre hochqualifizierten Berater, ihre Wirtschaftswissenschaftler, Firmenchefs, Filmstars und Fußballer hören würde. Die Märkte waren optimistisch, das Pfund schnellte in die Höhe. Am Freitag würde alles so sein wie immer.

Doch in Wahrheit waren die einzigen Menschen, die ein paar Stunden später von dem Ergebnis schockiert waren, die, die vorher nicht aufgepasst hatten. Und die bloße Tatsache, dass so viele, sowohl hier im Vereinigten Königreich als auch überall in der EU, aus allen Wolken fielen, sagt mehr über den Zustand Europas aus, als die teilweise fragwürdige Rhetorik beider Kampagnenlager.

Jahrzehntelang haben dieselben Politiker, die jetzt schockiert sind von der Entscheidung des Wahlvolks, den ausgehöhlten Gemeinden im industriellen Nordosten von England, in den Tälern von Wales und in den benachteiligten West Midlands erzählt, dass sie von der Globalisierung profitieren würden. Für viele, die gerade die Schwächung der Arbeiterklasse erlebten, klang das wenig glaubhaft.

Immer wenn die Arbeiter ihrem Frust Ausdruck verliehen – manchmal in einer Art, die das Establishment widerwärtig oder fremdenfeindlich fand –, stießen sie auf offene Ohren bei Anti-Establishment-Bewegungen wie Ukip.  Und einigten sich auf einen Sündenbock: die EU. Das Schreckgespenst.

Wir waren alle Teil des Problems. Dieses Land hat sich ideologisch geteilt, und nicht etwa rebelliert.

Ich vermute, ich bin selbst Teil des Problems. Jeder Stadtbezirk, in dem ich je gelebt habe, hat mit überwältigender Mehrheit für „Bleiben“ gestimmt. Und auch meine Altersgruppe hat mit überwältigender Mehrheit für „Bleiben“ gestimmt.  Wir sehen einfach nicht diese Verödung und die tiefe Desillusionierung, die außerhalb unserer einigermaßen wohlhabenden Städte existieren.

Was hat Brüssel jemals für uns getan?

Und genauso ging es ironischerweise gerade der Partei der Arbeiterklasse, Labour. Sie hat dieses Problem eben auch nicht gesehen. Der Wahlkreis des ehemaligen Labour-Chefs Ed Miliband (aufgewachsen ist er dort übrigens nicht) hat mit fast 70 Prozent für den Austritt gestimmt, ungeachtet seiner Appelle. Das gleiche, mit einer ähnlichen Quote, geschah im Wahlkreis eines anderen Labour-Schwergewichts, des ehemaligen Kabinettsmitglieds Peter Mandelson.

Die Herausforderung ist jetzt für alle gleich, für Labour, für Großbritannien und für den Rest der EU: Was können die Nutznießer des Freihandels, der Freizügigkeit und eines sich verändernden Arbeitsmarktes denen anbieten, die vielleicht nicht ganz so viel von der globalisierten Wirtschaft profitiert haben?

Die Arbeitsplätze, die einst Orte wie die Küstenstadt Redcar mit ihren ikonischen Stahlwerken zusammenhielt, sind verschwunden. Es sieht nicht so aus, als würden sie bald zurückkehren. Technischer Fortschritt und Mechanisierung haben weitere Arbeiterberufe abgeschafft, hier und überall in modernen europäischen Wirtschaftssystemen.

Während dieses Referendums haben vielen von denen, die diese Verluste erlitten haben, gefragt: „Was hat Brüssel jemals für uns getan?“ Jetzt werden sie sich vielleicht mit der gleichen Frage an die Rattenfänger von der Leave-Kampagne und die Regierungen der EU-Mitgliedsländer wenden: „Was werdet ihr jetzt für uns tun?“

Wie auch immer die Antwort auf diese Fragen lauten wird: Eine Sache gibt es, die, da bin ich mir sicher, viele Wähler, ob für oder gegen den Brexit, den Deutschen, den Franzosen und dem Rest der EU gerne klarmachen wollen.

„Vergib dem Volk, denn es weiß nicht, was es getan hat.“ 

Dies war keine Abstimmung gegen euch oder gegen eure Kultur. Frustration über das europäische Projekt waren schon immer Teil des britischen öffentlichen Lebens. Und die Briten teilen zwar vielleicht nicht eure Zuneigung zu seinen Institutionen. Aber zum größten Teil sind sie nicht deshalb wählen gegangen, um gegen die Gründungsideale der EU zu protestieren.

Vielmehr ging es in dieser Abstimmung um zwei konkurrierende Sichtweisen darauf, wie die britische Gesellschaft strukturiert sein sollte. Es ging in gleichem Maße um einen Denkzettel für die Regierung in Westminster – wie um einen für Brüssel.

Nun muss Großbritannien beweisen, wie es Boris Johnson in seiner verhaltenen Siegesrede betont hat, dass es beim Brexit nicht um kulturellen oder wirtschaftlichen Isolationismus geht. Dass das Land sich nicht abschottet. Dass ein Vereinigtes Königreich außerhalb der EU genauso einladend, nach außen orientiert und willig ist, mit seinen Nachbarn zusammenzuarbeiten, wie es am 22. Juni war.

Das ist nach wie vor die Vision vieler britischer Staatsbürger, und wenn es zum Schlimmsten kommen und dieses Land tatsächlich vom Kontinent wegdriften sollte, dann gilt das abgewandelte Bibelzitat, das ein prominenter Verleger twitterte: „Vergib dem Volk, denn es weiß nicht, was es getan hat.“

Übersetzung: Esther Widmann

Eine andere Sicht auf die Ursachen des Brexit:

  • teilen
  • schließen