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„Wir wollen, dass so viele wie möglich europäisch denken“

Belle Heiss

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Jeden Tag spielen sich im Mittelmeer Katastrophen ab, die Menschenleben fordern. Beinahe wöchentlich fragen EU-Politiker einander, wer welche Geflüchteten aufnimmt und wie viele. Wer muss die Verantwortung tragen für das, was auf dem Mittelmeer passiert? Für Andrea Venzon, 28, Italiener, ist die Antwort klar: Europa muss zusammenarbeiten. Vor zwei Jahren gründete er mit zwei Freunden, einer Französin und einem Deutschen, die Bewegung „Volt“, die als erste länderübergreifende Partei in ganz Europa aktiv werden soll. Seit dem Facebook-Launch von Volt im März 2017 ist die Bewegung auf mehr als 5000 Mitglieder aus allen EU-Staaten gewachsen. In Deutschland und sechs anderen EU-Staaten bemühen sich die Mitglieder gerade darum, als Partei anerkannt zu werden. Ihr Ziel: Bei der Europawahl im Mai 2019 anzutreten und eine Fraktion im Europaparlament zu stellen. In Deutschland hat Volt derzeit 400 Unterstützer und finanziert sich noch über Crowdfunding.

Wir haben mit der Leiterin der Münchner Gruppe, Belle Heiss, 28, über die Idee hinter Volt gesprochen. Belle hat Jura studiert und engagiert sich ehrenamtlich für Volt.

jetzt: In den vergangenen Wochen bekam man das Gefühl, die einzelnen EU-Staaten würden sich mehr voneinander abgrenzen denn je. Was bedeutet das für den gesamteuropäischen Ansatz eurer Partei?

Belle Heiss: Die Frage nach einer europäischen Gemeinschaft, die ihren Namen verdient, ist für uns eine ganz grundsätzliche. So, wie sie gerade ist, ist die europäische Politik viel zu ineffizient, das sieht man beispielsweise an der Asylpolitik. Sie ist ungerecht und verantwortungslos –  nicht nur den einzelnen Staaten wie Italien gegenüber, die sich im Stich gelassen fühlen, sondern auch den ankommenden Menschen gegenüber. 

Es ist schon besorgniserregend, dass die Mitgliedstaaten nicht stärker an einem Strang ziehen. Und eine europäische Lösung darf dann nicht auch noch von einzelnen politischen Spielern unterwandert werden, wie wir das in den letzten Tagen in der deutschen Politik gesehen haben. Solche nationalen Alleingänge gefährden die Gemeinschaft, die wir haben. Insgesamt muss es einen einerseits effektiveren und andererseits humaneren Umgang mit Geflüchteten geben.

Wie wollt ihr Staaten zusammenbringen, die vor ganz unterschiedlichen Herausforderungen stehen?

Natürlich hat jeder eigene Interessen. Aber es gibt Probleme, vor denen wir alle gemeinsam stehen. Bei denen ist es sinnvoll, sich gemeinsam Lösungen zu überlegen, die für alle langfristig funktionieren. Zum Beispiel in der Migrationspolitik. Das ist der Ansatz von Volt: Es gibt Konflikte, die wir auf europäischer Ebene lösen sollten. Andere auf nationaler und lokaler. Und dann gibt es Probleme, die jeder Staat kennt, zum Beispiel strukturschwache Gegenden auf dem Land. Man könnte sich dann auch Ideen von anderen abschauen: Wie macht ihr das denn? Hat irgendjemand in Europa schon eine gute Lösung dafür? Es geht um Austausch, nicht um Wettstreit. Und darum, zu erkennen: Letztlich hilft es uns allen, wenn man in Spanien die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff bekommt. Vor allem wollen wir eine praktische und effiziente Politik, von der die Menschen auch eine unmittelbare Wirkung spüren. Die Digitalisierung von Verwaltung ist einer unsere Kernpunkte.

„Es kann nicht sein, dass die Verantwortung an ein, zwei Staaten hängen bleibt“

Denkt nicht jeder zuerst an sich selbst?

Genau das wollen wir verhindern, indem wir auch auf die nationalen Besonderheiten der einzelnen Länder eingehen. Wir arbeiten an nationalen Wahlprogrammen, die die gleiche Richtung und die gleichen Werte verfolgen – nämlich europäische. Trotzdem soll jedes Land darin andere Akzente setzen können. Grundsätzlich verfolgen wir die gleichen Ziele. Soziale Gleichheit, eine wirtschaftliche Erneuerung Europas und etwas, das wir „globales Gleichgewicht“ genannt haben: Es gibt Dinge, bei denen Europa eine globale Verantwortung hat, zum Beispiel der Klimaschutz oder die Asylfrage. Die meisten Deutschen wünschen sich laut einer ARD-Umfrage eine europäische Lösung für die Migrationspolitik. Es kann nicht sein, dass die Verantwortung an ein, zwei Staaten hängen bleibt. Außerdem wollen wir eine direktere Demokratie, in der die Menschen mehr Mitspracherecht haben, abstimmen und diskutieren können.

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"Es wundert mich immer wieder, wie leicht sich die Leute von Schwarzmalereien überzeugen lassen. "

Foto: Belle Heiss

Der Brexit wurde nicht zuletzt durch direkte Demokratie in die Wege geleitet…

Das Problem beim Brexit war, dass die Verantwortung, die die Bürger tragen, und die Bedingungen, zu denen ein Austritt aus der EU passieren würde, überhaupt nicht klar waren. Die Brexit-Abstimmung wurde zu einem rein emotionalen „Wollt ihr rein oder raus?“ instrumentalisiert. Wenn man die Bürger nicht gut informiert, dann wird es Populisten sehr einfach gemacht, eine emotionale Kampagne zu führen. Bei unserer Vorstellung von direkter Demokratie geht es darum, den Menschen Mitsprache zu ermöglichen und sie über Konsequenzen zu informieren. Ich denke auch bei mir selbst: Es kann doch nicht sein, dass ich – nach einem Studium, in dem ich mich viel mit Politik und Recht beschäftigt habe – nie den Mut gefunden habe, Stellung zu beziehen. Und genauso geht es einer Auszubildenden, einem Rentner, einem Krankenpfleger. Wir wollen sie ermutigen, sich in die politische Debatte einzubringen. 

70 Prozent eurer Mitglieder haben keine politische Vorerfahrung. Ist das nicht auch ein Problem?

Ich glaube, das kann eine Chance sein. Die Trennung ist gerade viel zu starr, wir wollen kein: „Die Politiker sind da oben und wir sind da unten.“ Wir wollen auch die Menschen erreichen, die das Gefühl haben, der Fortschritt geht an ihnen vorbei und sie werden vergessen. Und diejenigen, die sich von Kampagnen angesprochen fühlen, die Angst machen. Gerade junge Menschen haben doch ihre Zukunft vor Augen. Es wundert mich immer wieder, wie leicht sich die Leute von Schwarzmalereien und Panikmache überzeugen lassen. Der Gedanke hinter Volt ist auch: Wir haben nur eine Zukunf, also lasst uns doch mit gemeinsamer Kraft etwas tun, um diese Zukunft zu gestalten. Das kam in den letzten Jahren viel zu kurz. Die Menschen glauben: Es bringt doch nichts, sich parteipolitisch zu engagieren. Wir wollen das wieder ändern.

„Für eine Modeerscheinung ist das Thema zu ernst“

Was unterscheidet euch von anderen Trenderscheinungen wie „Pulse of Europe?

Ich glaube, für eine Modeerscheinung ist das Thema zu ernst. Wir sind gerade an einem Punkt, an dem Europa nicht gerettet werden muss, aber auf jeden Fall verbessert werden sollte. Pulse ist eine tolle Bewegung, die es extrem schnell geschafft hat, über Facebook Menschen zu mobilisieren. Sie haben eine Gegenstimme zu dem „Wir sind das Volk“-Geschrei geschaffen und gezeigt, „Hey, wir sind auch das Volk, alte und junge proeuropäische Menschen.“ Aber demonstrieren alleine reicht nicht. Wir wollen politisches Gewicht haben und Forderungen stellen können, aber auch Verantwortung übernehmen.

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Eine von Volt initiierte Demo im Juni in München.

Foto: Belle Heiss

Was tut ihr, um Menschen außerhalb euerer Filterblase zu erreichen?

Man muss wirkliche Veränderungen in Aussicht stellen und klarmachen, dass politische Mitarbeit einen Effekt hat. Die Menschen sind gerade auf der Suche, viele sind politisch orientierungslos. Das ist natürlich eine Herausforderung für uns. Ich glaube, wir müssen beispielsweise gezielt über die Gewerkschaften Menschen ansprechen. Und wir dürfen nicht nur in der Innenstadt bleiben, sondern müssen dahin, wo es wehtut. In einer großen Stadt ist es leicht, Menschen zu überzeugen, weil es viele Gleichgesinnte gibt. Man darf übrigens nicht vergessen, dass Nationalismus in anderen Ländern eine andere Bedeutung hat. In Deutschland gibt es viel Gründe, warum man sich gerne als Europäer definiert. In Polen oder Ungarn hat Nationalismus beispielsweise einen anderen Stellenwert. Wir wollen das nicht verurteilen und auch niemandem etwas wegnehmen. Wir wollen ja keinen Einheitsbrei in Europa bilden. Die unterschiedlichen Kulturen sind das, was Europa wertvoll macht. Aber wir wollen, dass so viele wie möglich europäisch denken.

Für wen ist Volt?

Ich sage jetzt natürlich: für jeden. Aber wenn man es realistisch sieht: für Menschen, die gerade ins Berufsleben einsteigen. Oder für die, die das Gefühl haben, gut ausgebildet zu sein, aber sich zum Beispiel von der Politik im Stich gelassen fühlen. Oder für Menschen, die sich übersehen fühlen von einer menschenfernen Politik. Und für die, denen der Gedanke gefällt, sich der Schwächsten in der Gesellschaft anzunehmen, Behindertenintegration zu stärken, Kinderarmut zu bekämpfen. Und: Volt ist zwar jung, aber nicht nur für junge Menschen gedacht. Wir wollen auch ältere Menschen ansprechen, die noch ein stärkeres Bewusstsein für die EU haben. Und für ein Europa, das wir nicht kennen.

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