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„So einen Betrug am Wähler gab es in der türkischen Geschichte noch nie“

Ayse (links) und die meisten ihrer Freunde aus Kadikoy. Die Gruppe geht regelmäßig gegen Erdoğans Politik auf die Straße.
Bradley Secker

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Es ist Sonntagabend in Kadikoy, auf der asiatischen Seite Istanbuls, und zum ersten Mal seit einer Woche schlägt niemand auf Kochtöpfe und Pfannen, um gegen die „gestohlene Wahl“ zu demonstrieren. Das liegt vor allem daran, dass Muttertag ist und viele Türken den Tag mit viel Essen bei ihren Eltern verbracht haben.

Ayse kommt gerade mit ihren Freunden aus einer Bar. Sie war die vergangenen Tage jeden Abend auf der Straße. „Wir waren immer so um die 300, 400 Leute“, sagt die 20-jährige Schauspiel-Studentin. „Denn so einen Betrug am Wähler gab es in der türkischen Geschichte noch nie.“ Mit „Betrug am Wähler“ meint sie die Wiederholung der Wahl des Bürgermeisters von Istanbul am 23. Juni. Sollte der eigentliche Gewinner der ersten Runde, Ekrem İmamoğlu von der sozialdemokratischen CHP, die Wahl am 23. Juni verlieren, werde es große Proteste geben, da ist sich Ayse sicher. „Die Leute wissen doch längst, was los ist.“

Istanbul Protest

Ayse (links) und die meisten ihrer Freunde aus Kadikoy. Die Gruppe geht regelmäßig gegen Erdoğans Politik auf die Straße.

Bradley Secker
Istanbul Protest

Mert neben seinem Motorrad in Kadikoy, Istanbul. Er selbst geht nicht zu den Demonstrationen und findet auch nicht, dass Imamoglus-Unterstützer das tun sollten.

Bradley Secker
Istanbul Protest

Reha vor einer Bar in Kadikoy.

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Istanbul Protest

Ein Graffiti an einer Wand in Kadikoy. Es zeigt Ekrem Imamoglus Gesicht und seinen Satz „Es wird alles gut werden“

Bradley Secker
Istanbul Protest

Fatma sagt: „Ich liebe Erdoğan mehr als meinen Vater"

Bradley Secker

In kaum einer anderen Stadt der Welt leben Menschen mit so unterschiedlichen Lebensstilen so dicht zusammen wie in Istanbul – oder vielleicht besser: nebeneinander. Während im Nachbarviertel Üsküdar die islamische Orden residieren, ist Kadikoy die Hochburg der liberalen und säkularen Türken. Nach der Niederschlagung der Gezi-Proteste hat sich der Trend nochmals verstärkt. Viele liberale Türken verließen Cihangir auf der europäischen Seite und zogen rüber nach Kadikoy, auf der anderen Seite des Bosporus. Frauen mit Kopftuch muss man hier lange suchen. Dafür gibt es ganze Straßenzüge voller Bars, betrunkene Küsse und samstagnachts hier und da auch mal einen Kotzfleck.

In Kadikoy unterscheidet sich Istanbul nicht von Barcelona oder Lissabon. Das Leben hier ist ein ewiges Erasmus-Semester. Dass man gegen die AKP ist und Erdoğan furchtbar findet, muss man nicht erklären – es wird vorausgesetzt. „Die Proteste sind spontan, niemand organsiert das“, sagt Ayse. Dann zieht sie mit ihren Freunden weiter in eine andere Bar. 

„Irgendwann muss er ja sterben“ – seit der Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013 war das der meist gehörte Satz auf den Partys des Viertels, wenn es um Recep Tayyip Erdoğan ging. Der Satz brachte die Frustration so vieler junger liberaler Türken zum Ausdruck, deren Hoffnung auf Wechsel und Veränderung immer wieder enttäuscht worden war. Die Natur werde irgendwann das erledigen, was durch demokratische Prozess unmöglich geworden war: das Ende der Ära Erdoğan.

Doch seit einigen Monaten keimt wieder Hoffnung bei der liberalen Jugend Istanbuls. Die Stimmung war bereits spürbar beim Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr. Zwar verlor Herausforderer Muharrem Ince damals weit abgeschlagen gegen Erdoğan, aber ihm war es gelungen, Menschen zu mobilisieren und zu begeistern. Der Sieg von Ekrem İmamoğlu bei den Wahlen zum Bürgermeister von Istanbul am 31. März war ein Triumph, wenn auch ein unglaublich knapper: Mit nur 13 000 Stimmen lag er vor dem Kandidaten von Erdoğans AKP, Binali Yildirim. Das war auch für den Staatspräsidenten persönlich ein herber Schlag – schließlich hatte er selbst seine politische Karriere als Bürgermeister von Istanbul begonnen. Nun würde die Stadt zum ersten Mal seit 25 Jahren nicht mehr von der AKP regiert werden.

„Wo gibt es das?“, fragt Reha. „Dass Journalisten wegen sowas die Polizei rufen?“

Dabei ist Ekrem İmamoğlu eigentlich alles andere als ein charismatischer Politiker. Mit seiner randlosen Brille und dem Dauerlächeln wirkt er eher wie ein Mann, bei dem man seinen ersten Bausparvertrag abschließt. Aber gerade deswegen ist der 48-jährige Bauunternehmer so etwas wie ein Gegenentwurf zu Erdoğan. Er bleibt stets ruhig und gelassen, er poltert nicht, schimpft nicht, droht nicht. Als am Montag vergangener Woche die oberste Wahlkommission verkündete, es werde wegen angeblicher Regelwidrigkeiten Neuwahlen in Istanbul geben, rief İmamoğlu seinen Anhängern zu: „her şey çok güzel olacak“. Alles wird sehr gut werden. Der Satz changiert irgendwo im Spektrum zwischen Euphemismus und Galgenhumor – aber seitdem liest man ihn ständig als Hashtag und auf Hauswänden.

Reha warnt vor; er sei schon etwas betrunken. Aber dann redet der 30-jährige Werber doch in geschliffenem Englisch. Auch er war die vergangenen Abende demonstrieren – mit Topf und Kochlöffel, so wie es Tradition ist. Erst gestern habe er auf der Straße ein Fernsehteam des türkischen Staatssenders „A Haber“ getroffen, das ihn interviewen wollte. „Diebe!“, habe er ihnen zugerufen, und damit den gestohlenen Wahlsieg İmamoğlus gemeint. Das Fernsehteam habe daraufhin die Polizei gerufen. „Wo gibt es das?“, fragt er. „Dass Journalisten wegen sowas die Polizei rufen?“ Er glaubt, İmamoğlu habe auch am 23. Juni gute Chancen zu gewinnen. „Viele AKP-Wähler sind wegen der Wirtschaft unzufrieden. Ich meine, schau Dir doch den Lira-Kurs mal an.“

Tatsächlich hat die türkische Lira fast zehn Prozent ihres Wertes verloren, nachdem die Wiederholung der Bürgermeisterwahl angekündigt wurde. Einen Urlaub in Europa können sich mittlerweile nur noch Großverdienern leisten. Und auch in der Türkei selbst sorgt die Inflation von fast 20 Prozent für Unruhe. Im vergangenen Jahr waren es vor allem die stark gestiegenen Gemüsepreise, die viele einfache Leute verärgerten.

„Ich liebe Erdoğan mehr als meinem Vater“, sagt zum Beispiel Fatma

 In Deutschland haben die wenigsten Verständnis für den autoritär regierenden Erdogan. Doch längst nicht alle AKP-Wähler sind ungebildete Hinterwäldler. Viele können sich noch gut an die Zeit vor Erdoğan erinnern und sind Schlimmeres gewöhnt. Damals lag die Inflation selten unter 50 Prozent. Frauen wurden vor die Wahl gestellt, in Universitäten und öffentlichen Ämtern ihr Kopftuch abzunehmen, oder das Gebäude zu verlassen. Hochnäsige säkulare Istanbuler schimpften über die „dummen Anatolier“, weil die angeblich mit den Händen aßen. Erdoğan war der erste politische Führer, der ihnen eine Stimme gab. Und weil zeitgleich mit Regierungsbeginn der AKP 2002 auch ein beispielloser Wirtschaftsaufschwung einsetzte, und erstmals Millionen von armen Anatoliern der Aufstieg in die Mittelschicht gelang, sind viele Erdoğan immer noch dankbar. 

Bei manchen von ihnen ähnelt die Einstellung zu ihrer Partei weniger einem rationalen Wähler-Repräsentanten-Verhältnis, sondern mehr der emotionalen Beziehung von Fan und Fußballclub. „Ich liebe Erdoğan mehr als meinem Vater“, sagt zum Beispiel Fatma, die mit Zigarette und Kopftuch in der Barstraße von Kadikoy sitzt und dort genauso wenig hineinzupassen scheint wie ein Pinguin in einen Affenkäfig. Es klingt spätpubertär und trotzig. Doch auch nach mehrmaligen Nachfragen, ob sie das ernst meine, bestätigt sie: „Ja, ich liebe Erdoğan mehr als meinen Vater.“

Fatma lebt auf den Prinzeninseln, einem eigentlich wunderschönen Refugium in mitten des Marmarameers. „Aber da ist es langweilig“, sagt die 20-Jährige. „Hier sind Einkaufszentren und es ist etwas los.“ Deswegen verbringt sie ihre Zeit lieber in Kadikoy. Sie arbeitet als Verkäuferin in einem Modegeschäft und in einer Apotheke. Sie sagt, sie hasse die CHP und noch mehr deren aktuellen Partner, die kurdische HDP. „Das sind Terroristen“, sagt sie. 

Es gibt kaum einen Begriff, der in den vergangenen drei Jahren in der Türkei so gedehnt und ausgeleiert wurde, wie der des „Terroristen“. Die kurdische PKK ist ganz offiziell eine terroristische Organisation, das ist auch nach EU-Standards so. Nach dem fehlgeschlagenen Putsch vom Juli 2016 gelten auch die Anhänger des Predigers Fetullah Gülen als solche.

Wer es sich leisten kann, verlässt das Land

Unter dem Vorwurf der Unterstützung von Terroristen oder/und der Verbreitung von Terrorpropaganda wanderten Zehntausende in den vergangenen Jahren in die Gefängnisse. Diese sind heillos überfüllt - in der Türkei sitzen mit 200 000 Menschen mehr als fünfmal so viele Menschen in Haft wie in Deutschland. Im Wahlkampf um die Kommunalwahlen schreckte die AKP auch nicht davor zurück, Spitzenpolitiker der CHP in die Nähe von Terroristen zu rücken.

Dann meint Fatma noch, sie liebe auch Atatürk. „Kemal Atatürk und Erdoğan - sie sind beide Führer der Türkei“. Noch immer hängt das Porträt des Staatsgründers in jeder Amtsstube der Republik. In manchen ist in den vergangenen Jahren ein Bild Erdoğans hinzugekommen. Der eine hat aus den Trümmern des Osmanischen Reiches die Türkei geschaffen, indem er ausländische Kolonialmächte vertrieb, der zweite führt das Land zur alter neuer Größe. Diese Art der Heldenverehrung ist einem in Deutschland fremd, aber für viele Türken ist sie Teil des Alltags und spiegelt auch nicht selten die patriarchalen Familienstrukturen wider: Dem Papa rutscht zwar auch mal die Hand aus, aber eigentlich tut er für uns alle das Beste.

Die Wahlkampf-Strategen der AKP versuchen jetzt nun İmamoğlu als Teil einer Verschwörung des Auslands darzustellen. Ein Kommentator in der regierungsnahen Zeitung Yeni Safak suggerierte vergangene Woche, es gäbe ein Komplott seitens der USA, Deutschlands, Griechenlands, der PKK und Fetö und İmamoğlu deren Marionette. Darauf muss man erstmal kommen - und was fällt einem darauf auch noch anderes ein, als zu grinsen und zu sagen: „Her şey çok güzel olacak?“ Alles wird gut werden. 

Und wenn nicht? Wer es sich leisten kann, verlässt das Land. Viele junge Leute mit guter Ausbildung hat es in den vergangenen Jahren ins Ausland gezogen. In Kadikoy hat mittlerweile jeder mindestens einen guten Freund, der in den vergangenen Jahren nach Berlin oder London gezogen ist. Manche klagen gar darüber, dass kaum mehr einer ihrer Freunde in der Stadt lebt, die sie doch alle lieben.

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