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„Ich habe keine Angst mehr vor unserer Regierung!“

Foto: Brendan Hoffman/Getty Images

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Am 21. November jährt sich der Beginn der Maidan-Proteste in Kiew zum dritten Mal. Präsident Viktor Janukowitsch lehnte es damals ab, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Vor allem junge, pro-europäische Menschen gingen daraufhin auf die Straße. Die Gewalt eskalierte, als der Staat mit Gewalt gegen die Demonstranten vorging und diese zurückschlugen. Wir haben zwei junge Frauen aus Kiew, die von Beginn an den Maidan miterlebt haben, gefragt, was die Proteste aus der heutigen Sicht gebracht haben.

Yulia, 25, Juristin

Name von der Redaktion geändert

„Zur Zeit der Proteste war ich Studentin im letzten Studienjahr meines Masterstudiums. Ich habe an der Bewegung auf dem Maidan vom ersten bis zum letzten Tag aktiv teilgenommen. Es ging mir damals um Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen und die vorherrschende Gewalt. Freunde von mir haben auch Molotowcocktails gebaut, aber da habe ich nicht mitgemacht; ich bin gegen Gewalt – von allen Seiten.

Danach habe ich bei der Präsidentenwahl für den heutigen Präsidenten gestimmt. Ich bin immer noch überzeugt, dass es kein Fehler war. Unsere heutige Außenpolitik befürworte ich sogar ausdrücklich. Es gibt aber immer noch zu viele Angehörige des alten Establishments im heutigen Staatsapparat – deswegen will ich nicht, dass mein Name genannt wird. Als Juristin kann ich da große Probleme bekommen.

Und daran sieht man: Es hat sich nicht viel verändert seit dem Maidan. Janukowitsch ist weg, aber das politische Establishment lässt sich nach wie vor einteilen wie früher: Es gibt die Reformer. Dann gibt es die, die gerne mit der Korruption weiterleben möchten wie bisher, und es den Reformern schwermachen. Und dann gibt es die Populisten, die von den ganzen Krisen profitieren.

Die sind meiner Meinung nach auch immer noch eines der größten Probleme. Ich hasse sie, aber es wird sie immer geben. Populisten haben kein Interesse daran, dass Reformen verwirklicht werden. Unsere wirtschaftliche Lage ist schlechter als vor den Maidan-Protesten, unter anderem wegen des Krieges in der Ostukraine. Das ist eine weiterhin gute Grundlage für Populisten.

Wenn man mir die Frage stellt, ob sich das alles – die Toten, das große Leid, die ewigen Demonstrationen – für unser Land gelohnt hat, weiß ich also nicht genau, was ich antworten soll. Ich finde das Leben der einzelnen Menschen nämlich eigentlich wichtiger als ein großes staatliches Interesse.

Aber wenigstens gibt es einige Bestrebungen in Richtung von Reformen, die ich auch bei meiner Arbeit in der Rechtsberatung bemerke – vor allem beim Thema Wettbewerbsrechtsregulierung: Die Regierung hat da unter anderem professionelle Leute aus dem Business-Bereich in die staatlichen Behörden geholt – das hat den Behörden sehr gut getan, beispielsweise unserer Nationalbank.

Positiv ist und bleibt außerdem definitiv: Es gibt viel mehr Leute, die an Reformen teilnehmen und Innovationen verwirklichen wollen.“

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Darina Gulley am Maidan

Foto: privat

Darina Gulley, 20, Studentin der Architektur

 

„Ich bin am ersten Morgen der Proteste aufgestanden, habe meine Sachen gepackt und mich auf den Weg in die Uni gemacht. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wie immer. Während ich im Bus saß, hörte ich Schüsse und sah viele Menschenansammlungen in der Stadt. Da war ich sehr geschockt.

 

Als ich an der Universität ankam, wurden alle Studierenden evakuiert und mussten sich zentral versammeln. Unser Dekan bat uns, nach Hause zu gehen, da man auch Panzer in der Stadt erwarten würde. Das wusste er, weil wir in der Nähe unserer Universität eine Militärakademie haben. Ich bin also nach Hause und habe sofort den Fernseher eingeschaltet. Das war mein erster Tag des Maidan.

 

Die Tage darauf haben wir alle die Medien verfolgt und ich habe auch gemerkt, wenn Medien gelogen haben – ich habe immer meine Freunde angerufen, die direkt an den Orten waren, über die berichtet wurde. So habe ich auch herausgefunden, welchen Medien ich vertrauen kann.

 

Das ging einen Monat so, ich würde mich da als passive Zuschauerin beschreiben. Dann packte uns mein Vater ins Auto und fuhr mit uns zu den zentralen Demonstrationspunkten in der Stadt – er wollte seine Rechte wahrnehmen und uns die Wahrheit zeigen.

 

Als die Gewalt eskalierte, ist einer meiner Kommilitonen gestorben. Am 18. Februar 2014, im Alter von nur 22 Jahren. Oleksandr, so hieß er, ist als Held gestorben, weil er sich vor andere Studenten geworfen und die Kugeln abgefangen hat. Einen Tag später hätte er seine Abschlussprüfung an der Universität gehabt. Die Studentenschaft hat durchgesetzt, dass es einen Erinnerungsstein für ihn gibt, der jetzt vor der Front unserer Fakultät steht.

 

Unser Land ist nach dem Maidan, aber natürlich noch viel mehr durch die Krim-Krise und den Krieg in der Ost-Ukraine, gespalten in Ost und West. Und ich selbst bin offener geworden, engagierter und toleranter. Ich habe außerdem seit dem Maidan keine Angst mehr vor unserer Regierung oder anderen Autoritäten! Ich kann jetzt hier offen über meine Meinung und meine Einschätzung sprechen. Ich kann alles tun. Wenn einem heute in der Ukraine etwas nicht passt, dann kann man es auch sagen, und ich ermuntere alle meine Freunde dazu. Wir müssen nicht mehr alles hinnehmen und sind nicht mehr zu schwach, um unsere Meinung zu äußern.

 

Auch die Politiker haben ihre Ansichten geändert, nachdem Janukowitsch vertrieben worden war. Wir sind jetzt mit dem Assoziierungsabkommen an die Europäische Union gebunden, wir haben uns viele Fachkräfte in den Regierungsapparat geholt, um der Korruption entgegenzuwirken – Menschen, die aus der Privatwirtschaft kommen, nicht aus dem alten Verwaltungsapparat. Aber ich will jetzt auch realistisch bleiben: Es wird noch sehr lange Korruption geben – jeder will viel Geld haben und nach wie vor sind die Löhne in unserem Land ziemlich schlecht.

 

Ob die Ukraine besser geworden ist? Der Krieg in der Ostukraine und die Krim-Krise sind noch nicht vorbei, also ist es nicht möglich, eine komplette Zusammenfassung abzugeben. Auf jeden Fall hat sich das Land aber verändert.

 

Andererseits: Eine Freundin von mir hat ihre Familie auf der Krim besucht und darf jetzt nicht mehr ausreisen, obwohl das Semester losgegangen ist. Was wird aus ihr und ihrem Studium? Wir sitzen hier in Kiew und andere sorgen sich um ihre Liebsten, die in der Ostukraine kämpfen. Wie sollen wir die wichtigen Probleme in unserem Land lösen, wenn wir gleichzeitig einen Krieg führen müssen? Ich hoffe, dass wir in einigen Jahren wieder ein integres Land sein können.“

 

Nach unserem Gespräch laufen Darina und ich abends noch gemeinsam zum Maidan. Bei den Bildern der Gefallenen finden wir ihren Kommilitonen Oleksandr. Ihm möchte Darina ihren Beitrag widmen.

 

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