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Mexiko: Massenentführung in Iguala 2014 - Überlebender im Interview
Eine Gruppe von Studenten fährt zu einer Demo. Sie kommen von einer Uni, die bekannt ist für ihre linken Querdenker. Unterwegs werden sie von der Polizei beschossen und verfolgt, 43 von ihnen tauchen nie wieder auf. Klingt wie ein extrem brutaler Krimi - und ist so passiert am 26. September 2014 in Iguala, Mexiko. Omar García, 27, ist damals dem Kugelhagel entkommen und auch den Schergen, die seine Kommilitonen verschleppt haben. Seither spricht er auf Kundgebungen zu Hause und im Ausland, er will auf die mexikanischen Ermittler Druck aufbauen, damit das Massaker aufgeklärt wird.
Der mexikanische Staat hat die verschwundenen Studenten längst für tot erklärt und Täter präsentiert: einen Bürgermeister, der die Polizei auf die Studenten angesetzt haben soll – weil er angeblich fürchtete, dass sie randalieren und eine öffentliche Rede seiner Frau stören würden. Außerdem im Gefängnis: drei Auftragskiller, die der verlängerte Arm der örtlichen Polizei gewesen sein sollen. Laut Geständnis haben sie die 43 Studenten erschossen und auf einer Mülldeponie verbrannt.
Sonderermittler von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte haben diese Version teils widerlegt – und dafür neue Tatsachen ans Licht gebracht: Am Studentenmassaker waren ihren Recherchen zufolge nicht nur lokale Polizisten beteiligt, sondern auch Bundespolizei, Militär und Mitglieder von Drogenkartellen. Die Studenten könnten in einen Bus mit Schmuggel-Heroin geraten und deswegen brutal aus dem Weg geräumt worden sein, so eine These der internationalen Experten. Doch das bleibt Spekulation, denn Mexikos Staatsanwaltschaft hat die Sonderermittler wieder nach Hause geschickt und bisher nichts Neues herausgefunden. Für den Überlebenden Omar García zeigt der dünne Ermittlungsstand vor allem eines: Wer die Wahrheit herausfinden will, muss Wege außerhalb der mexikanischen Behörden finden.
jetzt: Wie hast du die Nacht erlebt, als deine Kommilitonen verschwanden?
Omar García: Wir wollten nach Chilpancingo und dort Busse nach Mexiko-City nehmen, zu einer Demo, die jedes Jahr am 2. Oktober stattfindet. Es war um acht Uhr abends, da kam ein Anruf von den Kommilitonen, die vorausgefahren waren. Sie waren in Iguala und sagten, wir sollten sofort kommen, weil die Polizei auf sie schieße und es einen Toten gebe. Mit 30 Leuten sind wir sofort losgefahren. Als wir ankamen, sahen wir zerschossene Busse und diejenigen, die den Angriff überlebt hatten – die Situation war völlig konfus.
Sie sagten, dass die Polizeistreife einige aus der Gruppe mitgenommen habe. Da dachten wir noch: Okay, die Polizei wird ihnen vielleicht irgendwas anhängen, aber gegen eine Kaution kriegen wir die schon wieder frei. Was uns Sorgen machte, war der Kommilitone, von dem sie zuerst dachten, er seit tot. Ein Rettungswagen hatte ihn wohl mitgenommen, und wir wussten nicht, wohin. Komisch war auch, dass keiner kam, um den Tatort abzusperren, wie das sonst nach Schießereien passiert. Es kam keine Polizei, auch kein Militär.
Was habt ihr dann unternommen?
Wir riefen bei der Presse an, damit wenigstens irgendjemand aufnahm, was passiert war. Viele Journalisten wollten nicht kommen, weil es ihnen zu gefährlich war. Zu diesem Zeitpunkt schossen die Polizisten auch an einem anderen Ort in der Stadt auf Leute von uns und jagten ihnen hinterher. Da gab es zwei Tote. Es war grauenhaft.
Und wie seid ihr da rausgekommen?
Als eine Stunde später doch ein paar Presseleute kamen und wir alles erzählten, dachten wir, jetzt kann uns die Polizei nichts mehr anhaben. Sollte sie uns nochmal angreifen, dann gäbe es Zeugen dafür. Aber es war nicht vorbei. Plötzlich kam ein Pick-up, Typen sprangen heraus und schossen wie wild auf uns. Ob das Polizisten waren, konnten wir nicht erkennen. Es war zu dunkel. Sie sind an ihrem Fahrzeug geblieben und haben von dort geschossen. Wir warfen uns auf den Boden und versuchten, uns unter den Bussen zu verstecken und hinter den Autos. Irgendwann haben sie aufgehört zu schießen. Diejenigen, die nicht von einer Kugel getroffen worden waren, nutzten den Moment, um wegzurennen, jeder in eine andere Richtung. Bei der Schießerei sind zwei Kommilitonen gestorben. Und einer, der wegrannte, ist am nächsten Tag aufgetaucht – tot und ohne Gesicht. Sie haben ihm die Kopfhaut abgezogen.
Was hat das alles mit dir gemacht?
Eine Zeitlang habe ich mich schuldig gefühlt, weil ich überlebt habe. Uns alle hat diese Nacht in einen absoluten Schockzustand versetzt. Dabei war das nicht das erste Mal, dass wir Gewalt erlebt haben. Da, wo ich herkomme, im Bundesstaat Guerrero, gibt es laufend Schießereien zwischen Drogenkartellen. Die erste Schießerei habe ich miterlebt, da war ich acht Jahre alt. Auf einem öffentlichen Fest haben sich damals zwei verfeindete Gruppen gegenseitig angegriffen. Der 26. September 2014 war also einmal mehr so eine Gewalterfahrung. Du denkst an nichts anderes, als dass sie dich jetzt kriegen können. Du rennst einfach nur noch, in dem Wissen, dass sie dich vielleicht sehen und umbringen.
Hattest du nie Angst, immer wieder öffentlich aufzutreten und über das Massaker zu berichten?
Nein. Wir wissen zwar, dass es in Mexiko politische Gefangene, Folter und Morde an Aktivisten gibt. Deswegen gibt es auch so viele, sagen wir, harmlosere Menschenrechtsverletzungen in Mexiko, die niemand anzeigt: aus Angst. Aber der 26. September 2014 war so krass, dass uns einfach nicht mehr interessierte, ob uns auch etwas passieren würde – ob sie uns am Ende auch umbringen oder verschwinden lassen würden. Und ich glaube, das kam auch daher, weil so viele Menschen hinter uns standen. Die Familien der verschwundenen Studenten, andere Kommilitonen, andere Universitäten – eigentlich das ganze Land, das über die Ereignisse empört war und auf die Straße ging. Deshalb dachten wir: Egal, was aus uns wird, die Leute müssen erfahren, was wirklich passiert ist.
Du gehörst heute zu einer großen Bewegung in Mexiko, die Aufklärung über die 43 Verschwundenen fordert. „Lebend hat man sie mitgenommen, lebend wollen wir sie wieder“, das ist euer Slogan auf Demos. Glaubst du, dass deine Kommilitonen noch am Leben sind?
Ja. Die Familien glauben das. Und wir alle werden nichts anderes glauben, bis man uns das Gegenteil beweist. Und zwar mit echten Beweisen, nicht mit irgendeiner Version, die man aufbläht und dann auf der ganzen Welt verbreitet. Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass die mexikanische Regierung die Wahrheit nicht ans Licht bringen will. Die mexikanischen Ermittler wollen uns weismachen, dass unsere Kommilitonen auf der Müllkippe im Ort Cocula verbrannt worden sind. Aber da kann ein Feuer in einem solchen Ausmaß gar nicht stattgefunden haben. Auf Satellitenaufnahmen aus dieser Nacht ist von einem riesigen Feuer nichts zu sehen.
Das sagt auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, sie hatte 2015 Sonderermittler nach Mexiko geschickt. Haben diese Ermittler dich sehr beeindruckt? Immerhin studierst du jetzt nicht mehr Lehramt, sondern Jura. Warum?
Politischer Aktivismus allein hätte uns nicht bis hierher gebracht. Wir hätten Wände besprühen können, Polizeipatrouillen angreifen oder den Regierungspalast. Aber weiter wären wir damit irgendwann nicht mehr gekommen. Diejenigen, die in diesem Fall eine wichtige Rolle gespielt haben, waren Anwälte von Menschenrechtsorganisationen und der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte. Sie haben den Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof gebracht und aufgedeckt, wie dilettantisch die Ermittlungen der mexikanischen Regierung waren. Deswegen will ich Jura studieren und später vielleicht mal eine Menschenrechtsorganisation gründen – damit ein Staat nicht einfach solche Verbrechen begehen kann.
Warum siehst du das Ganze als Verbrechen des Staates?
Es gibt eine neue Plattform mehrerer Menschenrechtsorganisationen, auf der sämtliche Beobachtungen und Aussagen zu der Nacht vom 26. September 2014 auf einer Karte zusammengestellt wurden, auch die Berichte der Ermittler von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte. Und dort kann man sehen, dass es damals eine intensive Koordination gab zwischen lokaler Polizei, Bundespolizei und Militär. Es waren auch Banden des organisierten Verbrechens beteiligt, und zwar mit Erlaubnis der staatlichen Sicherheitsbehörden. Das Verschwinden meiner Kommilitonen war eine gewaltsame Entführung, und die Verantwortlichen sind der Staat und seine Institutionen.