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Warum Erdoğan von den Anschlägen profitiert

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jetzt: Nach dem Anschlag am Dienstag konnten die Menschen in der Türkei für viele Stunden im Mobilfunknetz nicht auf Facebook und Twitter zugreifen – die Dienste waren gesperrt. Welchen Zweck verfolgt die türkische Regierung damit?

Yaşar Aydın: Es ist eine restriktive Informationspolitik. Das Internet wurde verlangsamt, bei vielen ging es gar nicht. Damit will Erdoğan den Informationsfluss einschränken. Diese Taktik ist hauptsächlich nach den Gezi-Park-Protesten entstanden, da hat er gesehen, dass soziale Medien zu einem Instrument der Opposition geworden sind. Erdoğan weiß, dass er in der Kritik steht, und soziale Medien gehören zu den wenigen Informationsquellen in der Türkei, deren Inhalte noch nicht direkt von der Regierung kontrolliert werden können. Anders als bei konventionellen Medien, die unter großem Druck stehen.

Könnte man nicht auch sagen, die Regierung wollte mit der Sperre auch die Kommunikation unter potenziellen weiteren Terroristen erschweren?

Wenn man nicht diesen restriktiven Umgang mit kritischen Journalisten und Medien hätte, wäre diese Argumentation glaubwürdiger. Terrorismusprävention mag eine solche Informationspolitik und eine Zugriffsbeschränkung auf die sozialen Medien erfordern, aber wenn man das große Bild betrachtet, dann lässt sich nicht gänzlich abstreiten, dass hier auch eine Instrumentalisierung durch die Regierung stattfindet. Es geht auch um die Kontrolle von Nachrichten. Auch das Fernsehen und die Zeitungen sind von der Sperre des Informationsflusses betroffen.

Wie verändern solche Anschläge die Politik in der Türkei?

Sie erzeugen ein Gefühl der Unsicherheit unter der Bevölkerung. Interessanterweise kamen die gerade vor allem der Regierungspartei zugute.

Erdoğan profitiert indirekt von den Anschlägen?

Schauen Sie sich die Wahlen aus dem vergangenen Jahr an: Die AKP hatte die Wahl im Juni erst verloren. Nach mehreren Anschlägen im November konnte sie dann doch wieder gewinnen. Solche Anschläge erzeugen das Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit, und möglicherweise auch nach einer autoritären Führung.

Und Erdoğan erscheint dann alternativlos?

Erdoğan ist in der Türkei fast der einzige Politiker, der in der Lage ist, die Massen zu bewegen und emotional mitzunehmen. Das lässt ihn als jemand in den Vordergrund treten, der die Geschicke des Landes lenken kann.

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Migrations- und Türkeiforscher Yaşar Aydın lehrt an der HafenCity Universität Hamburg und an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie.

Foto: Kerim Arpad/DTF Stuttgart

Verändern diese Anschläge, die dem IS zugeschrieben werden, eigentlich die Haltung der Bevölkerung gegenüber syrischen Flüchtlingen im Land?

Ja, es stärkt das Misstrauen gegenüber Menschen aus Syrien. Es herrscht die Vermutung vor, dass der IS unter den Flüchtlingen dort auch Attentäter rekrutiert, beziehungsweise mit den Flüchtlingen auch Terroristen ins Land kamen. Aber die Haltung der Türken gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen war von Anfang an nicht immer wohlwollend und eher kritisch. Viele waren der Meinung, dass es der Türkei ohnehin nicht gut geht, die Arbeitslosigkeit hoch ist, und dass Flüchtlinge in dieser Situation eine zusätzliche Belastung sind. Der Großteil der Flüchtlinge lebt ja auch außerhalb der Camps, syrische Flüchtlinge können seit Anfang des Jahres eine Arbeitserlaubnis bekommen. Das führt aber häufig zu Lohndumping. Außerdem steigen Mieten und Grundstückspreise. Alles Faktoren also, die die Lebenssituation vieler türkischer Bürger verschlechtern und damit eine Atmosphäre erzeugen, die nicht gerade pro Flüchtlinge ist.

 

Kippt diese Stimmung auch in Repression gegenüber Flüchtlingen? Gibt es brennende Flüchtlingsheime, wie in Deutschland, auch in der Türkei?

Nein, so etwas gibt es dort nicht. Gewalttätige  Auseinandersetzungen hat es zwar gegeben, nicht jedoch in großem Umfang. Es gibt keine Anti-Migrations-Bewegung, wie wir sie aus Deutschland kennen, wie sie von Pegida oder der AfD ausgeht. Es gibt eine ultranationalistische Partei, die MHP, aber die Flüchtlingsfrage ist noch nicht deren Zentrum. So eine Entwicklung lässt sich aber auch nicht ausschließen. Der gegenwärtige Nationalismus in der Türkei richtet sich eher gegen Demokratisierung und ethno-kulturelle Forderungen der Kurden als gegen Flüchtlinge.

 

Nach den ganzen Anschlägen erscheint der Protest gegen den Bau einer Kaserne im Gezi-Park als fast schon unwichtig. Erdoğan hat vor Kurzem angekündigt, die Kaserne nun doch noch zu bauen, trotz der Proteste von 2013. Glauben Sie, die Menschen protestieren noch einmal dagegen?

Ob es zu einer ähnlich langandauernden Protestwelle kommt, lässt sich schwer abschätzen. Fest steht: Erdoğans Vorstoß wird die soziale und politische Polarisierung in der Bevölkerung noch weiter vertiefen und das Vertrauen in die Staatsführung untergraben. 2013 verhielt sich die kurdische Bewegung zurückhaltend – bei einer neuen Protestwelle wird sie sich anders verhalten. Auch ist der Kreis derer, die sich vom System ausgeschlossen und an den Rand gedrängt fühlt, heute viel größer.

 

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