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Unicef-Chef im Interview
Bis zum Dienstag fanden in New York zwei internationale Gipfel statt, die sich mit der weltweiten Flüchtlingskrise beschäftigten. Von vielen Menschenrechtsorganisationen wurden die Gipfel kritisiert, weil zu wenig Verbindliches dabei herauskam.
Wir haben bei Christian Schneider, Chef von Unicef Deutschland und Teilnehmer der Gipfel, nachgefragt. Schneider war bereits in dutzenden Flüchtlingslagern weltweit und kennt das Elend der Flüchtenden sehr gut.
jetzt: Sie kommen gerade von den beiden Flüchtlingsgipfeln in New York zurück. Ist das nicht reine Symbolpolitik, die dort gemacht wurde?
Christian Schneider: Ich kann verstehen, dass solche Gipfel von außen als zu unverbindlich und unbefriedigend wahrgenommen werden. Mein Eindruck war aber: Es gibt keine Alternative dazu, dass sich alle Länder an einen Tisch setzen und sich gegenseitig in die Pflicht nehmen. Dass dabei um diplomatische Details gerungen wird, ist logisch. Angesichts der Dringlichkeit der behandelten Probleme wünscht man sich schnellere und konkretere Schritte.
Es fielen ergreifende Worte, auch in der Rede Barack Obamas. Aber keiner der in New York gefassten Beschlüsse ist verbindlich.
Das Abschlussdokument des UN-Gipfels ist völkerrechtlich nicht bindend, nicht einklagbar, das stimmt. Trotzdem muss ich sagen, nach mehreren Jahren größter Flüchtlingsbewegungen weltweit, und trotz der Anstrengungen einzelner Länder, wie etwa Deutschland: Wir brauchen eine Verständigung über humane Grundsätze über alle Gegensätze hinweg. Was ich an dem Abschlussdokument gut finde ist, dass es nicht heißt „New Yorker Deklaration zu Flucht und Migration“, sondern „New Yorker Deklaration für Flüchtlinge und Migranten“. Das ist ein Signal, das zeigt: Nicht die Welt leidet unter einer Krise, sondern Millionen von Menschen. Die Betroffenen selbst sind es, die leiden.
Das klingt gut. Aber das Welternährungsprogramm meldet immer wieder, dass nicht genügend Geld da ist. Geld, das von der internationalen Gemeinschaft zugesagt wurde, aber einfach nicht überwiesen wird. Konterkariert das nicht genau die Beschlüsse auf den Gipfeln?
Da muss man die beiden Gipfel differenziert betrachten. Der erste am Montag wollte einen humaneren Umgang mit den Flüchtlingen erreichen. Da ging es nicht um Geld, sondern darum, dass es überall klar sein soll, dass Kinder als Kinder behandelt werden – ob sie nun als Migranten, Flüchtlinge, Vertriebene oder Asylsuchende gelten. Der Obama-Gipfel gestern hatte das Ziel, mehr und konkretere Hilfe zu mobilisieren. Und das zugesagte Geld von den Ländern einzufordern. Auch das Bundesentwicklungsministerium hat darauf noch mal hingewiesen.
Zugesichertes Geld wird also tatsächlich nicht bezahlt?
Leider, und damit haben wir beispielsweise bei unserer Arbeit in Syrien und in vielen anderen Krisenländern große Schwierigkeiten: Wir müssen uns überlegen, ob wir Notschulprogramme und die Wasserversorgung in Aleppo weiter aufrechterhalten können. Dort sind wir mit 15 syrischen Mitarbeitern vor Ort, die zusammen mit vielen lokalen Partnern immer wieder Pumpen reparieren, damit Hundertausende Menschen wenigstens Wasser haben.
Deutschland scheint in der Flüchtlingsfrage politisch gespalten wie nie. Der einzige Satz, der von allen Parteichefs, Merkel, Seehofer, Gabriel, Petry immer auf die gleiche Weise fällt, ist „Fluchtursachen bekämpfen“. Das fühlt sich an, als sei Flüchtlingshilfe vor allem ein Weg, die Leute hier wegzuhalten.
Zuerst: 86 Prozent aller Flüchtlinge halten sich in armen Ländern auf, die mit den damit verbundenen Problemen auch noch oft genug allein gelassen werden. Das humanitäre Mandat muss also Priorität bekommen. Menschen in Not haben ein Recht und einen Anspruch darauf, Hilfe zu bekommen. Punkt. Das ist der Auslöser und Antreiber für unsere Arbeit. Konkret in Syrien geht es aber auch drum, die, wie es mittlerweile heißt, Resilienz der Menschen zu erhöhen. Ihre Fähigkeit, dort auszuharren.
Was heißt das konkret?
Dass wir zum Beispiel Bildungsangebote für Kinder schaffen. Das darf man nicht unterschätzen. Natürlich geht es für die Menschen dort zunächst ums Überleben, aber parallel ist Bildung essenziell. Ein junges pakistanisches Flüchtlingsmädchen hat auf dem Gipfel ihre Schule als den wichtigsten Ort für Kindheit beschrieben: „Einer der besten Plätze, die ich kenne, der Ort, an dem ich alles um mich herum vergesse.“ Solange die Kinder eine Zukunft haben können, entscheiden sich viele Eltern fürs Bleiben. Die halten Fassbomben, Mörserangriffe und Scharfschützen aus – aber wenn Kinder keine Zukunft haben, ist das der letzte Auslöser für Eltern, das Land zu verlassen. Fehlende Bildung hört sich nie so dramatisch an wie der Zugang zu Wasser und Essen. Aber sie entscheidet über die Zukunft.
Was ist Ihrer Meinung nach der Grund, weswegen die westliche Welt die Bekämpfung dieses Elends nicht zu ihrer größten Priorität macht? Ist es ein Mangel an Empathie?
Vielleicht können wir uns das einfach oft nicht richtig vorstellen. Das, was Kinder uns in Flüchtlingslagern erzählen, übersteigt oft das Fassungsvermögen. Hinzu kommt, dass wir in gewisser Weise viel zu viele Informationen haben. Ständig wird an unsere Aufmerksamkeit und unser Mitgefühl appelliert. Eine Reaktion darauf kann der Hang sein, sich zurückzuziehen, ins Private. Aber auch politisch ist da ein Trend, sich abzuschotten und individuell als Staat zu agieren, als Nation. Darauf suchen die Vereinten Nationen eine Antwort. Da sind wir wieder bei der Bedeutung der Gipfel.
Sie waren in dutzenden Flüchtlingslagern weltweit. Wie hat Sie das verändert als Mensch?
Aus vielen Gesprächen mit Müttern und Kindern in Flüchtlingslager habe ich gelernt, dass es für Kinder Probleme gibt, die wir uns kaum vorstellen können. Ein Beispiel: In Syrien berichten unsere Mitarbeiter, dass wir dort mit Unicef-Geld Schutzwände vor Notschulen hochziehen müssen, um die Kinder vor Heckenschützen zu bewahren. Das ist für mich ein Symbol, welche rücksichtslose Gewalt wieder in der Welt existiert. Ich dachte, nach dem Völkermord in Ruanda hätten wir das hinter uns gelassen. Wir müssen Schutzwände bauen. Und wir müssen reden und die Regierungen in die Pflicht nehmen, wie gerade auf den Gipfeln in New York.