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"Gezielte Provokation und Eskalation"

Foto: Henning Kaiser/dpa

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Yavuz Köse hat seit 2010 die W3-Professur für Turkologie an der Universität Hamburg inne. Er wurde 1971 in Bayern geboren und ist in der Türkei und in Deutschland aufgewachsen.

„Ich finde es wichtig darauf hinzuweisen, dass die gesammelten Stimmen nicht repräsentativ für die in Deutschland lebenden Deutschtürken sind, auch wenn man gerne dazu tendiert, die in derlei Veranstaltungen erscheinende "Masse" mit der Mehrheit gleichzusetzen. Noch lieber vereinnahmen AKP-Vertreter gleich alle ca. drei Mio. Deutschtürken für sich. Doch die Wahlbeteiligungen sprechen eine andere Sprache: Bei den letzten Wahlen (November 2015) etwa waren von den ca. 1.4 Mio. Wahlberechtigten ca. 40% wählen. Davon haben ca. 59% (also etwas über 330.000) für die AKP gestimmt. Das sind knapp 10 % aller in Deutschland lebenden Bürgerinnen mit Türkeibezug.

Die AKP versucht nun verzweifelt unter den restlichen ca. 1 Mio. potentiellen Wählern Stimmen zu gewinnen. Daher die geradezu obsessiv und hysterisch betriebenen Wahlkampfveranstaltungen. Denn nach allem, was wir über das Meinungsbild in der Türkei sagen können, sieht es in der Tat eher danach aus, als ob die Gegner des Referendums derzeit knapp vorne liegen würden – ein doch klares Indiz, dass auch unter den traditionellen AKP-Wählern eine nicht geringe Anzahl die geplante Verfassung ablehnt. Die AKP und insbesondere der Staatspräsident fahren – nun offenbar in Panik geraten – die Strategie der gezielten Provokation und Eskalation, um vor allem das Lager der nationalistisch gesinnten Türken auf ihre Seite zu ziehen. Letztere sind besonders für Feindbilder "Westen"/"Europa" etc. zu haben. Daher darf man sich nicht wundern, wenn der Ton aus der Türkei in den nächsten Tage noch schärfer wird; vermutlich wird zusätzlich noch die "Trumpfkarte" Islam gespielt werden.

prof dr yavuz köse

Prof. Dr. Yavuz Köse

Foto: privat

Es sei darauf hingewiesen, dass es nach türkischem Gesetz verboten ist, im Ausland sowie in Auslandsvertretungen Wahlkampf zu betreiben. Die Vertreter der aktuellen Regierung verstoßen damit gegen geltendes türkisches Recht (ein Gesetz, das sie übrigens selbst erlassen hat!). Die Strategie, statt mit Inhalten zu überzeugen, einen auf Personenkult und Opfermythen bauenden Wahlkampf zu betreiben zeigt, dass die türkische Regierung offenbar keine wirklich guten Argumente hat, warum die Menschen in der Türkei sowie hier mit "Ja" für das Referendum stimmen sollten.

 

Für die deutsche Öffentlichkeit ist überdies wichtig zu erfahren, dass sowohl die politische Opposition als auch zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen trotz der z.T. massiven Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, trotz der Einschüchterungen und Repressalien, öffentlich und in den sozialen Medien ihre kritische Haltung zur geplanten Verfassungsänderung äußern und für ein „Nein“ werben. Sowohl renommierte türkische als auch europäische Verfassungsrechtler sind sich darin einig, dass die von der AKP geplante Verfassungsänderung eine massive Beeinträchtigung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei bedeuten würde.“

 

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