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Folge 7: Gewöhn’ dich daran, das bleibt jetzt so

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Und wie wär’s, wenn Du Dich einfach daran gewöhnst, fragte Lars und schaute dabei erst geradeaus. Und dann mich an. Ich sah auf meine Füße, dann in Richtung Horizont, wo die Sonne gerade mal wieder mit Getöse einen blutroten Untergang hinlegte – und schwenkte dann, um nicht übertrieben pathetisch zu wirken, wieder zurück auf meine Füße. „Daran gewöhnst?“, wiederholte ich fragend, obwohl ich ihn ganz gut verstanden hatte. Lars antwortete prägnantestmöglich: „Ja.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die knappe Stunde, die an diesem Mittwochabend bis dahin vergangen war, lässt sich ziemlich schnell zusammenfassen: Lars und ich saßen auf dem Dach jenes Hochhauses, das ich mir in meinen ersten fünf Provinzminuten schon mal für meinen letzten Provinzabend reserviert hatte. Ohne zu wissen, wann der eintreten würde. Und ob überhaupt. Der Anlass, mit Lars hier herauf zu kommen und von oben auf die Provinz herabschauend Bier zu trinken, war dementsprechend nicht mein letzter Abend hier. Sondern seiner. Kommste mit, Bierchen trinken, hatte er mich kurz vorher eingeladen. Vielleicht deshalb so lapidar, damit ich nicht denke, was jeder denken würde – wenn ihn ein ungefähr Gleichaltriger (des für ihn eher uninteressanten Geschlechts natürlich, der Vollständigkeit halber), den er kaum kennt, bittet, seinen letzten Abend in der jeweiligen Stadt doch bitte mit ihm zu verbringen. Nämlich: Armes Schwein. Die Urbanität des Im-Gehen-Trinken Von unserer Mietshaustür bis zum Eingang des Hochhauses liegen 20 Minuten Weg. Zu Fuß. Lars hatte kein Fahrrad, Auto fiel flach und Busse fuhren nach 19 Uhr nicht mehr. Nach zwei Minuten packte Lars aus seinem Army-Rucksack, den er über seiner Puma-Trainingsjacke trug, zwei Halbliterflaschen Bier - dieses Normmodell, das man manchmal findet, wenn man im Vorgarten umgräbt. Beide hebelte er mit seinem Schlüsselkarabiner auf und gab mir eine. Über uns wurde ein Fenster geschlossen, gegenüber bewegten sich die Gardinen. „Nicht lang schnacken, Kopf in’n Nacken“, rezitierte Lars, haute mir danach, vor Freude über seine gelungene Hamburg-Anspielung prustend, mit der Faust ins Kreuz und trank. Zwei Kollegen aus der IT-Abteilung meiner Firma kamen mir entgegen. Ich hielt die Flasche neben meine Hosennaht. „Was’n los?“, fragte Lars. „Kein Durst?“ Nö. Kein Durst. „Muss noch üben, beim Gehen zu trinken“, log ich und versuchte ein Grinsen. „Ich dachte“, sagte Lars, „das macht Ihr alle so, in der Großstadt.“ Äh. „Das hat so was Entspanntes“, fügte er hinzu. Ach so. „Finde ich gut“, sagte er dann auch noch. Schön. Über uns beugte sich wieder jemand aus dem Fenster. Großstadt ist also da, wo alle Leute mit Bierflaschen in der Hand herumlaufen, ja? „Ist das dein Ernst?“, vergewisserte ich mich. Sein Blick antwortete: Ja. Sein voller. Dummerweise hielt er von diesem Moment an den Mund. Auch noch, als wir oben auf dem Dach saßen. Ich überlegte kurz, wie ich das plötzlich herangeschwemmte Eis brechen könnte, und stellte die dümmstmögliche Frage: „Na, und, schon gepackt?“ Es folgte eine gefühlt einstündige Suada. Oh, er freue ich hammermäßig – er sagte wirklich hammermäßig – auf Hamburg. Er würde auch anfangen zu laufen, er würde um die Alster joggen und an der Elbe entlang, er würde jeden Abend feiern gehen, auf dem Kiez und am Hamburger Berg, er würde massenweise neue Freunde finden, die alten würden ihn besuchen kommen, er würde ihnen den Michel zeigen und das Rathaus und… „Lass mal langsam angehen“, sagte ich nur und fand mich sehr, sehr altklug. „Die Stadt läuft dir nicht weg.“ Inzwischen waren wir beim dritten Bier. Der durchdringende Blick der Provinz „Und du so, schon ein bisschen besser eingelebt inzwischen?“ Ich überlegte kurz. Und entschied mich dann, ihm die Frage zu stellen, vor deren Antwort ich mich schon gefürchtet hatte, seit ich an meinem ersten Provinztag aus dem Fenster geschaut hatte: „Bleibt das so? - Das Gefühl, dass das alles ja eigentlich ganz schön ist, aber um wirklich schön zu sein ist es einfach viel zu eng?“ Ungefähr dieser Wortlaut muss es sein. Ich illustrierte meine Frage ausführlich: Mit meinem Spaziergang zum Bahnhof, durch diese unfassbar leere Fußgängerzone. Mit meiner Joggingrunde am Tag zuvor, als ich an einer Weggabelung, an der ich üblicherweise rechts abbiege, mal links abbog und mich sieben Minuten später weit außerhalb der Stadtgrenzen wiederfand, mit dem Namen meiner Stadt auf einem gelben Landstraßenschild, um mich herum nichts, nicht mal ein Bauernhof, nur Gegend. Mit meinem Gefühl, dass ich hier immer die gleichen sieben Leute treffe, jeden Tag, mal beim Bäcker, mal auf Arbeit oder in der Kneipe oder im Wald, damit ihre Hunde auch mal an echte Bäume pinkeln können. Und dass all diese Leute sehr viel Zeit damit verbringen, mich anzuschauen, so, als käme ich von einem anderen Stern – was ja auch stimmt, aber die Art, wie sie mich angucken, lässt mich glauben, ich hätte Tentakel auf dem Kopf. Okay, der durchsichtige Blick, den die Hamburger so draufhaben, ist auch schwer auszuhalten. Aber besser als dieses dauernde Durchbohrtwerden. Und dann gab mir Lars die Antwort, vor der ich mich unterbewusst gefürchtet hatte, die Latente-Angst-Antwort: „Und wie wär’s, wenn Du Dich einfach daran gewöhnst?“ Weil, fügte er dann noch hinzu, ändern werde sich das nicht. In der folgenden Nacht hatte ich einen ziemlich merkwürdigen Traum. Ich befand mich in einem holzvertäfelten Wohnzimmer, neben mir auf dem Sofa die quarkarmige Bäckereifachverkäuferin, die Wasabi-Erdnüsse in sich hineinstopfte. Im Fernsehen lief Fußball. Irgendein Championsleague-Finale, keine Ahnung wer genau gespielt hat, der Kommentator jedenfalls war – statt Kerner oder Bela Rethy – Wiglaf Droste. Droste aber kam nicht weit: Als irgendwann ein langhaariger Stürmer dem Tor entgegenrannte, stoppte das Bild, der Kommentar brach ab – und durch das Fenster schallte laut eine sehr schnulzige Klaviermelodie, zu der eine Frauenstimme unverständliches Zeug singt. Ich, erstaunt, und Bäckereifachverkäuferin, kauend, gingen zum Fenster. Und sahen, fast wie in der Telekomwerbung, Rosenblätter vom Himmel fallen, hunderte, tausende. Nur: Anders als in der Telekomwerbung segelten die Blätter nicht sacht in Richtung Erde. Sondern fielen nass und schwer, klatschten auf die Straße, blieben an Straßenlaternen hängen, hinterließen auf Fenstern und Autos weinrote Schlieren. Doch die Leute, die auf der Straße herumstanden, liefen nicht weg, um sich irgendwo unterzustellen. Nein: Sie blieben stehen. Mit offenen Mündern. Und glotzten.

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