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Nummer 6: "Die langweiligste Landschaft der Welt"

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„NEU: Jetzt auch sonntags geöffnet“, hatte jemand mit krakeligen Buchstaben auf eine runde Papiertortenspitze geschrieben und in die Tür der Bäckerei gehängt. Meiner Bäckerei – inzwischen hatte ich oft genug dort eingekauft hatte, um sie so zu nennen, von der Verkäuferin mit den Quarkoberarmen werde ich längst erkannt und begrüßt, außerdem muss ich ja langsam anfangen, mich heimisch zu fühlen, ziemlich dringend sogar. Das „Sonntags geöffnet“-Schild bezieht sich allerdings nur auf den Zeitraum von halb acht bis halb zehn Uhr morgens – diese zwei Stunden hatte ich zuletzt zu meiner Konfirmation vor zwölf Jahren wach erlebt (und nach meiner Blinddarmoperation drei Jahre später vermutlich auch mal). Jetzt, um halb acht abends, ist alles leer und tot. Kein Wunder: Das einzige, was hier jemanden hätte anlocken können, ist ein roter, an die Fassade geschraubter Kaugummi-Automat. Aber wohl auch nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem jemand einen D-Böller im Auswurfschacht gezündet hatte.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Bäckerei liegt von meiner Wohnung aus ungefähr auf halbem Weg in die so genannte Innenstadt. Und zum Bahnhof. Dorthin will ich. Nachsehen, wann hier freitags Züge abfahren – die Wochenenden hier, habe ich gemerkt, sind nicht so der Bringer. Und mit dem Heimischwerden muss ich’s ja auch nicht gleich übertreiben, andererseits. (Ich könnte auch online nachsehen, klar. Aber seit dem Telefonat mit meiner Mutter brauchte ich dringend frische Luft – von Lars‘ Hamburg-Nachricht ganz zu schweigen. Mann Mann Mann.) Gegenüber der Bäckerei: ein gewaltiger Garagenvorplatz, gepflastert mit diesen wellenförmigen Betonsteinen, die ein bisschen aussehen wie Gummibären. Aus den Fugen wuchert Unkraut, ein paar Stellen sind sehr ungeschickt mit Teer geflickt. Fast so ungeschickt wie auf dem Gehsteig vor meiner alten Wohnung in Hamburg, dachte ich. Und schob den Gedanken schnell ins Abseits. Kein Mensch weit und breit. Zwanzig Garagen, zähle ich. Fünf Tore sind bemalt: zweimal Wolken, einmal Formel-1-Rennwagen, einmal Kuhflecken – und ein riesiger, schon leicht verblasster Homer Simpson. Die übrigen sind einfach nur grau. Hässlich und öde. An die Tür zum Müll-Keller meiner alten WG war ein kleiner Bart Simpson gesprayed. Sogar noch ein kleines bisschen hässlicher. Im Blickfeld von Homer Simpson: eine Metzgerei. Die kenne ich nur von außen, genau wie die Lotto-Annahmestelle, dessen Betreiber an Sonnentagen immer ein Regal mit Äpfeln und fleckigen Pfirsichen vor dem Laden platziert und davor den Aufsteller mit der tagesaktuellen Bildzeitung. Eigentlich mag ich solche Miniläden, leider hatte besagter Betreiber bei unserem ersten Kontakt aber eine so dezidiert widerliche Fahne, dass er auf mich als Kunden verzichten muss. Vor dem Eingang liegen ein paar verdorrte Blätter – im Mai. Gäbe es nicht schon ein Video zu „Aber hier leben, nein danke“ von Tocotronic, hier könnte man es drehen. Dass hier außer mir noch jemand anders lebt, ist für mich gerade sowieso unwahrscheinlich. Krass, wie sich 50.000 Einwohner sonntagabends einfach in Luft auflösen können, denke ich und laufe weiter, die leere Straße hinunter, eine andere leere Straße entlang, in die leere Fußgängerzone, über den leeren Marktplatz. Kein Mensch weit und breit. In der Großstadt gibt es ja mindestens noch verliebte Pärchen, die händchenhaltend herumspazieren und dadurch die Leere bevölkern. Oder Familien. Und Obdachlose gibt es meistens auch. Hier gibt es nicht mal Tauben. Und der McDonalds hat geschlossen. Man könnte jetzt Walzer tanzen zu lauter Musik, man könnte sich mitten auf den Marktplatz legen und liegen bleiben, man könnte im Rathausbrunnen baden, wenn es einen gäbe, man könnte wahrscheinlich sogar Sex haben auf offener Straße – all das, was man sonst nur nach Mitternacht in der Öffentlichkeit tut und auch dann meistens nicht. Es würde niemanden stören. Weil niemand da ist, der sich daran stören könnte – eine ganz besondere Form von Einsamkeit. Nicht Großstadteinsamkeit, bei der du merkst, es gibt sehr viele andere Menschen, aber du kennst keinen und keiner kennt dich. Provinzeinsamkeit ist mehr: Wüsstest du’s nicht besser (und würde nicht doch ab und an mal ein Auto vorbeirauschen), könntest du meinen, du wärst der letzte Mensch auf Erden, quasi - ich fange an zu pfeifen - eine Mischung aus dem Will Smith aus „I am Legend“ und Wall-E. Über mir öffnet sich ein Fenster, zwei Augenpaare mustern mich kritisch. Ich höre auf zu pfeifen. So kann man sich täuschen. „Die Fußgängerzone glich die meiste Zeit einer Filmkulisse während der Drehpause. Die sorgfältig dekorierten Schaufenster des Schuhgeschäfts und der daneben liegenden Apotheke schienen nur für die paar Sekunden eines kurzen Kameraschwenks zurechtgemacht“, schreibt der Autor Kolja Mensing in seinem Buch „Wie komme ich hier raus?“, das von seiner Jugend in der Provinz handelt. Ganz vorne im Buch ist der Tocotronic-Songtext zu „Let there be rock“ zitiert. Ich kann mich nur an die erste Zeile erinnern: „Wir haben gehalten // in der langweilisten Landschaft der Welt“. Mensing lebt heute in Berlin, Tocotronic sind die Inkarnation von Hamburg. Beide haben recht, beschließe ich, während ich den Bahnsteig betrete. Das Bahnhofsgebäude ist verschlossen, macht nichts, ich brauche nur den Plan mit den Zugabfahrten. Es ist ein DinA3-Bogen, aufgehängt in einem Bahn-Schaukasten. Es gibt nur eine Verbindung – hin zur nächstgrößeren Stadt, die an das ICE-Netz angeschlossen ist. Hierher kommen Züge nur, falls jemand weg will, denke ich, als über mir eine Lautsprecherstimme plärrt: „Achtung an Gleis 1, eine Durchfahrt“. 18 Güterwagen brettern durch den Bahnhof. Gegenüber dem Bahnhof öffnet sich ein Fenster, ein Mittfünfziger streckt den Kopf heraus und schaut angestrengt in meine Richtung. Zählt wahrscheinlich nach, ob es auch wirklich 18 Waggons sind. Die Fahrt zum ICE-Bahnhof in der nächsten großen Stadt dauert eineinhalb Stunden, unterwegs hält der Zug an jeder Milchkanne. Kenne ich sehr gut: Von meiner Heimatstadt aus muss auch erstmal eine Stunde fahren, wenn du nicht nur weg, sondern irgendwann auch irgendwo ankommen willst. Überhaupt kommt mir das alles gerade sehr bekannt vor: kaputte Betonsteine, leere Fußgängerzonen, Provinzeinsamkeit. Kenne ich alles. Bin ja damit aufgewachsen. Na sauber. So schnell hätte es dann auch nicht gehen müssen mit dem Heimischfühlen.

Text: alexander-just - Foto: dpa

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