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Provinzkolumne, Teil 5: Leben im Trivialroman

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Und dann rief meine Mutter an. Es war Sonntag, später Nachmittag, und obwohl es eigentlich den ganzen Tag geregnet hatte, versuchte der Himmel eine Art Sonnenuntergang hinzukriegen. Mit Abendrot und allen Schikanen. Ich stand am Herd, sah den langsam vor sich hin brutzelnden Bratkartoffeln beim partiellen Schwarzwerden zu und versuchte den rechten Moment abzupassen, um drei Eier in die andere Pfanne zu hauen, möglichst so, dass alles gleichzeitig fertig ist, à la minute gewissermaßen. Ist bei Bratkartoffeln und Spiegelei keine wirkliche Herausforderung, aber das reicht für mich nicht als Grund, es bleiben zu lassen. Da klingelte das Telefon. Am Abend vorher haben mich meine neuen Kollegen mitgenommen. Enterprise heißt der Laden, irgendwo in einem Nachbarkaff, keine Ahnung mehr, wo. Party machen gehen, nannten sie es und grinsten verschwörerisch. Nehme an, jeder neue Kollege muss mit ihnen da hin. Der Laden gehört zu der Sorte Läden, über die jeder lästert, sogar noch beim Schlangestehen am Einlass, und in die dann doch jeder geht. Okay, ist in der Großstadt bisweilen nicht anders. Nur: Da gibt es Alternativen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wenn meine Mutter anruft, läuft das eher selten nach dem Herr-Lehmann-Schema. Kein „Schon Viertel nach zehn, da schläft man doch nicht mehr, da wundere ich mich schon, dass du noch schläfst, ich bin schon seit sieben auf den Beinen“, aber leider, anders als in besagtem Roman von Sven Regener, auch kein finales „Wir kommen nach Berlin“. Warum auch. Würden mich meine Eltern besuchen wollen, müssten sie – kulturgeografisch gesehen – eher die entgegengesetzte Richtung einschlagen: von der Provinz in die Provinz, getrennt nur durch ein paar hundert Kilometer und einen anderen Dialekt. Anders gesagt: Sie könnten genausogut bleiben, wo sie sind. Und genau das ist ihr Ansatz. Das Telefon klingelte immer noch. Was den Anruf bemerkenswert machte: Sie rief auf der Festnetzleitung an. Ohne von mir die Nummer bekommen zu haben – ich war noch nicht dazugekommen, die Leitung stand erst seit drei Tagen, irgendwie hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, und, okay, gesucht hatte ich auch keine. Keiner kannte die Nummer, nur mein Vermieter und - „Ich habe bei Dir im Büro angerufen, die Sekretärin war so nett“, sagte meine Mutter zur Begrüßung. Stimmt, der Personalbogen. Bevor ich ganz und gar kapiert hatte, dass die Assistentin meines neuen Chefs an meinem dritten Tag einen Anruf von meiner Mama gekriegt hatte, die sich nach der privaten Telefonnummer ihres Sohnes erkundigt, an meinem dritten Tag, dem Moment, in dem der hoffentlich gute erste Eindruck noch nicht ganz unauslöschlich manifestiert ist, fragte sie weiter: Na, und, gefällt’s Dir schon ein bisschen besser inzwischen? Reflexartig begann ich den Satz abzuspulen, den ich mir zwischenzeitlich für solche Fälle überlegt habe – „Ja, naja, ist tatsächlich ganz nett hier, vor allem auf den zweiten Blick, und landschaftlich ist das alles total schön gelegen, ich freue mich schon auf den Sommer“. An der Art, wie meine Mutter „Na schön“ entgegnete, hörte ich, dass sie mein Manöver durchschaut hatte. „Und auf der Arbeit?“ Dafür, dass ich meine Existenz, bestehend aus Freundeskreis und WG-Zimmer über den Haufen geworfen hatte, die Stadt, in die ich immer hatte ziehen wollen, verlassen und in eine andere Stadt, die meiner Heimatstadt so unglaublich ähnlich ist, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, dorthin zu ziehen – dafür klang die Frage erschreckend lapidar, fand ich. Ärgerte mich kurz. Und erzählte dann: von meinem Schreibtisch, der zwar in einem Großraumbüro stand, dort aber sehr geschickt in einer Ecke am Fenster, um den Großraumfaktor auszuschalten. Von meinem Chef, der mittags immer mit dem Team Essen geht, aber eine halbe Stunde vor den anderen aufbricht, damit allen genug Zeit bleibt, auch mal zu sagen, was sie wirklich denken, wie er mir am ersten Tag schmunzelnd erklärt hatte. Von einem Surfertyp mit kinnlangen, offensichtlich blondierten Haaren und ziemlich mutigem T-Shirt, den ich erst für den ziemlich unmöglichen Lover der Sekretärin gehalten hatte, bis er sich mir als der Webmaster vorstellte. Von meinen Aufgaben, die meine Mutter schon seit Jahren nicht mehr ernsthaft zu verstehen versucht (genau genommen seit meinen Mathehausaufgaben in der 10. Klasse), sie sich aber trotzdem anhört. Und davon, dass ich morgens immer noch eine Runde laufen kann, im Wald, und dann mit dem Rad zur Arbeit fahre, ohne ernsthaft Gefahr zu laufen, überfahren zu werden. Im Gegenteil: Den größten Teil des Wegs lege ich im Grünen zurück, neben einem kleinen Fluss. Draußen am Himmel fliegt ein Flugzeug von Ost nach West. Und zieht einen Kondensstreifen hinter sich her. Das ist der Unterschied, dachte ich. Bis vor ein paar Wochen war mir sowas egal, Kondensstreifen, Flugzeuge, weil ständig welche da waren, ich habe nie darauf geachtet. Jetzt, hier, ist das fast eine kleine Attraktion, so ein Flugzeug mit so einem Kondensstreifen. Jämmerlich. Bin doch keine sieben mehr. Die Diagnose meiner Mutter war messerscharf – wäre das hier ein Trivialroman, würde ich sagen: sie traf mich wie ein Blitz: „Schön, dass es dir so gut gefällt hier“, sagte meine Mutter. „Du klingst ja richtig begeistert.“ Sagte meine Mutter. Und klang überzeugend. Ähm. „Du, ich muss essen“, flüchtete ich mich wenig charmant nach vorne. „Ja, äh, tschüss dann“, sagte sie, „und guten Appetit.“ Ich aß dann aber doch nicht. Sondern schaltete den Herd aus, zog mir eine Jacke an, schloss die Wohnungstür, bemerkte im Treppenhaus, dass ich barfuß war, schloss wieder auf, zog Schuhe an, schloss ein zweites Mal ab, dann wieder auf, um zu checken, ob der Herd wirklich aus ist, dann wieder zu, Treppe runter, raus. Ich klang also begeistert. Auf der Straße traf ich Lars. „Hey“, machte er. „Gut, dass ich dich treffe. Willste morgen zu meiner Abschiedsparty kommen?“ „Ich dachte, die war letzte Woche?“ „Das war Teil I“, grinste Lars. „Jetzt“, sagte er und grinste nochmal, „kommt Teil II“. An einem Montagabend? Egal. „Gerne“, sagte ich. „Wohin ziehst du eigentlich?“ „Hab‘ ein tolles Angebot bekommen.“ Ach. „Keine Verkehrsmeldungen mehr?“ „Doch, sagte er, „aber nicht mehr hier.“ „Sondern?“ „Ich geh‘ nach Hamburg.“

Text: alexander-just - Foto: ap

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