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Raus auf's Land

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Zu den Sachen, die dringend mal wissenschaftlich untersucht werden müssen, gehört das Abschiedsverhalten wehmütiger Großstädter, wenn sie wegziehen müssen aus ihrer Großstadt. Soll heißen: Warum verabschiedet sich jemand (nein: nahezu jeder) von der Stadt, die er künftig nicht mehr „seine Stadt“ nennen wird, so gerne auf einem Hochhausdach sitzend, in Gegenwart mindestens eines besten Freundes, Zigaretten (optional) und Bier (zwingend)? Ein Ansatz könnte lauten: Weil’s uns in unzähligen Filmen vorgemacht wurde. Oder: Weil wir uns damit jetzt – symbolisch – gerne über das zu Ende gehende Kapitel unserer Vergangenheit stellen und damit sagen wollen: Ey Stadt, bist ja gar nicht so großartig wie du immer getan hast. Oder, meine Theorie: Weil’s einfach schön aussieht, besonders nachts. Und weil immerhin die Möglichkeit besteht, dass Du Dich beim Anblick dieser vielen kleinen Lichter verleiten lässt, den für den Umzug reservierten Sprinter am nächsten Tag wieder abzubestellen. Ich bin für sowas leider zu konsequent. Und fahre deshalb jetzt mit meinem nicht abbestellten Sprinter auf die Autobahn, während sich unter meinem WG-Balkon sehr wahrscheinlich gerade die Belegschaften mehrerer in meiner Stadt ansässigen Kreativagenturen, bestehend aus betont schnodderig gestylten Mittdreißigern einschließlich Kind und Kegel, um kippelige Cafétische schart. Um Latte zu trinken und Hörnchen zu essen. Nur, dass ich ihnen heute nicht von oben herab dabei zugucken kann. Weil mein WG-Balkon ab sofort nicht mehr mein WG-Balkon ist. Und dass sich unter meinem künftigen Fenster auch Kreativlinge zum Frühstück treffen, ist, naja, eher unwahrscheinlich. Denn: Ich ziehe in die Provinz. Aufs Dorf gewissermaßen. Da wird zu Hause gefrühstückt. Noch 198 Kilometer. Okay, es ist kein richtiges Dorf. Sondern, ja, eine Stadt. Mit zwei Autobahnanschlussstellen, einer H&M-Butlers-Fielmann-Fußgängerzone, je einer Filiale aller gängigen Fastfoodketten, und Blumenkübeln vor dem Rathaus. Klar, auch vor Großstadtrathäusern stehen manchmal Blumenkübel. Aber nur vor Provinzrathäusern fallen sie auf. Noch 164 Kilometer. Provinz, das ist: Unkraut, das zwischen Betonplatten wächst. Schlechte, sehr laute Teenager-Metalbands. Reihenhaus-Siedlungen mit Vorgärten, darin lachende Terracotta-Maulwürfe, manche mit Sonnenhut. Fußgängerzonen, in denen nach Ladenschluss erstmal gar nichts mehr los ist, bis sich zwei Stunden später ein paar Halbwüchsige auf gepimpten Mofas dort treffen und sich mit Fastfood-Verpackungen bewerfen. Noch 139 Kilometer. Für die Miete, die ich für mein WG-Zimmer hinlegen musste, könnte ich hier eine ganze Fabriketage mieten. Wenn es hier Fabriketagen gäbe. Dafür gibt es drumherum viel Luft, viel Platz, viel Grün, viel Gegend. Oh Mann. Ich will da nicht… ach, jetzt ist’s sowieso zu spät. Noch 100 Kilometer. Meine, äh, Stadt ist ausgeschildert. Langsam wird’s ernst. Noch 83 Kilometer. Es ist übrigens nicht so, dass ich was gegen Provinz hätte. Ich meine, okay, es klingt vielleicht so, aber: Es ist auch nicht so, dass ich ein gebürtiger Großstädter wäre. Bin ich nicht. Und unter uns: Nichts und niemanden verachte ich heimlich mehr als Menschen, die sich ihr durch Geburt erlanges Großstädterdasein heraushängen lassen, egal ob Berliner, Hamburger oder Münchner. Noch 69 Kilometer. Halt, stimmt nicht ganz: Zugezogene Berliner, Hamburger und Münchner, die sich schon im Einwohneramt berlinerischer, hamburgischer oder münchnerischer aufführen als die tatsächlich Eingeborenen, verachte ich doch noch ein kleines bisschen mehr. Noch 31 Kilometer. Wie ich Leute finde, die nie aus ihrer Kleinstadt herausgekommen sind, und die Leute, die sich aus der Großstadt in die Kleinstadt verändern – das muss ich erst noch herausfinden. Noch 15 Kilometer. Und wie es aussieht, bleibt mir gar nichts anderes übrig. Noch 7 Kilometer. Sauber: Auch hinter dem Ortsschild stehen Provinzblumenkübel. Und, ha, da vorne ist ein Hochhaus. Der Ort, an dem ich sitzen und biertrinken kann, wenn ich wieder fahre. Könnte aber bisschen dauern. Bin ja noch nicht mal da. "Sie haben ihr Ziel erreicht." Okay. Okay. Ich bin da. Zu Hause. Und jetzt? Erst Nestbau, oder erst Freundschaft mit Eingeborenen schließen? Zwei habe ich gerade schon auf der Straße gesehen. Sahen ganz normal aus. Eigentlich.

Text: alexander-just - Illustration: Katharina Bitzl

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