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22 Berlinale-Momente – Sonntag, 15. Februar

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Die 54. Berlinale geht heute zu Ende. Unser Lichtspiel-Reporter hat 22 Berlin-Momente der letzten Woche blitzlichtartig, subjektiv und verkatert auf Dönerbudenservietten gekritzelt. Den Potsdamer Platz zum ersten Mal mit Leben gefüllt sehen - und plötzlich begreifen, wie er von den Planern gedacht war. Schade, dass es nur ein paar Wochen im Jahr funktioniert. In der ehemaligen WG einchecken und am nächsten Morgen erfahren, dass man in demselben Bett genächtigt hat, in dem letztens der unsägliche Joachim Deutschland seinen Whiskyrausch ausschlief. Daraufhin intensiver duschen als gewöhnlich. Über den roten Teppich laufen (vormittags, wenn es niemanden interessiert). Sich fragen, wer den Dreck bis zum Abend wieder wegmacht, den die Besucherschuhe beim berlinaltetypischen Schmuddelwetter draufschleifen. Feststellen, dass die legenddre Primal-Scream-Zeile "We wanna be free, to do what we wanna do! We wanna have a good time - and we wanna get loaded!" aus dem trashigen Bikerfilm "Wild Angels" stammt, der in der "New Hollywood"-Retrospektive läuft. Warten lernen: darauf, dass der Typ mit dem Wohnungsschlüssel zuhause ist. Darauf, dass ein Rechnerplatz im Pressezentrum frei wird. Darauf, dass der Freund anruft, der einen auf die X-Filme-Party schmuggeln will. Darauf, dass das Licht endlich ausgeht. Darauf, dass die anderen irgendwann auch Schwierigkeiten mit dem Geradestehen bekommen und nicht noch das hunderste Beck's der Nacht bestellen. Darauf, dass die Erkältung sich entscheidet: Entweder verschwinden oder richtig ausbrechen. Darauf, dass man sich irgendwann wieder dafür interessiert, was in der Welt außerhalb des Feastivals vor sich geht. Den jungen Harvey Keitel in Scorseses frühem Werk "Mean Streets" bestaunen und sehen, dass die männliche Hälfte des Atomic Cafés in München ihre Frisur bei dem mindestens ebenso jungen Robert De Niro abgeschaut haben könnte. Weil der Hintern nach drei Filmen am Tag noch nicht platt genug ist, abends noch in die Volksbühne gehen. Wo Alexander Scheer und Marc Husemann in Casdorffs "Kokain" leider nicht so großartig sind wie erhofft. Dafür gibt es eine wuchtige Marsch-Version von Nenas "Irgendwie, irgendwo, irgendwann" zu hören. Da hätten Mia auch selbst draufkommen können. Schlecht träumen, zum Beispiel dies: Man kommt bei keiner der Berlinalepartys rein, nicht mal bei einer, die in der eigenen Wohnung stattfindet. Als man irgendwann die Absurdität der Situation erkennt und sich an den Türstehern vorbeischleicht, sind alle Gäste schon weg, nur Michael Moore liegt besoffen auf dem Fußboden. Die ungewollte Komik des nervtötenden Wettbewerbbeitrags "Die Nacht singt ihre Lieder", das Gelächter im Saal an den Stellen, die eigentlich extrem bedeutungsschwanger angelegt sind - und die Schimpftiraden des gekränkten Regissseurs Romuald Karmakar auf der anschließenden Pressekonferenz. Sich fragen, ob der Hauptdarsteller Frank Giering eigentlich auch noch mal einen guten Film machen möchte. Merken, dass ganz egal, was man den Leuten anderswo von der Berlinale berichtet - alle finden nur eins wirklich toll: dDie beleuchteten Kugelschreiber der Profikritiker. Wenn man nur wüsste, wo es die gibt, müsste man ein Jahr lang nicht mehr über Geburtstagsgeschenke nachdenken. Sich über den Gesprächsmarathon von Ethan Hawke und Julie Delply in "Before Sunset" freuen. Richard Linklaters Fortsetzung von "Before Sunrise" ist vielleicht die erste, die besser ist als ihr Vorgänger. Immer wieder aufs Neue dar|über erstaunt sein, wie viele leer stehende Häuser es in Mitte gibt - und was für gute und unprätentivse Partys dort in Wohnungen im fünften Stock stattfinden können. Die bezaubernden Bilder von "Was nützt die Liebe in Gedanken?" und der feste Plan, sich im Sommer in einem Landhaus in der Uckermark einzumieten und im weißen Hemd Feldwege entlangzuradeln. Ungelogen auf jeder zweiten U-Bahn-Fahrt kontrolliert werden. Von Wettbewerbsfilmen wie "The Final Cut" so enttäuscht sein, dass man eigentlich am liebsten nur noch in "New Hollywood"-Filme gehen will. Als die Regisseure noch tüchtig bekifft waren, kein Studioboss auch nur eine Seite des Drehbuchs lesen durfte und noch niemand wusste, was Marktforschung überhaupt sein soll. Den Vorsatz auch in die Tat umsetzen und beim Ansehen von "Zabriskie Point" feststellen, woher das Video mit den Zeitlupenexplosionen von Fatboy Slim geklaut ist, Al Pacino als jungen Junkie in seiner ersten Hauptrolle in "The Panic In Needle Par" bestaunen und die blutjunge Cybil Sheperd in "The Last Picture Show". Die später über die Dreharbeiten berichtet, dass ihr Agent wegen ihrer bloden Haare damals immer seine Sprache verlangsamte, wenn er das Wort an sie richtete. Also doch nicht alles in Butter gewesen in "New Hollywood". Zwischen zwei Filmen einen alten Freund treffen, der jetzt zusammen mit Bernd Eichinger produziert. Ihn daran erinnern, dass man zu Schulzeiten in seinem ersten Kurzfilm mitgespielt hat (als irrer Superheld mit Gummimaske auf dem Kopf und einem Kannister Insektenspray auf dem Rücken). Ihm trotzdem keine Rolle für das nächste Projekt abschwatzen können. Allen Leuten über den Mund fahren, die über die Krise des deutschen Filmes schwadronieren. Ihnen aufwändige Entschuldigungstelegramme und Blumensträuße schicken, nachdem man erfährt, dass die Scorpions auf dem roten Tepich gerockt haben. Harald Martensteins Berlinale-Kolumne im Tagesspiegel lesen und lieben. Vor allem den Gedanken, dass sich in dem seltsam schmeckenden Vöslauer-Wasser, das überall gratis gereicht wird, Tränenflüssigkeit von Juliette Binoche befindet. Außerdem lieben, dass der Text endet mit "die Redakteure rufen: 'der Platz, er ist um!'." Wissen, dass man einen derart geschmeidigen Ausstieg nicht toppen kann. Und dass der Platz im Internet ja leider sowieso nie um ist.

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