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Akte "jetzt" - die Redaktion schildert ihre unerklärlichen Erfahrungen

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Ich war jung und die ersten Ausläufer von Pubertät raubten mir mit ihren Gedankenstürmen über Gott und die Welt den Schlaf. Ich war früh ins Bett gegangen, ich musste am nächsten Morgen früh in die Schule. Ich wälzte mich im Bett und starrte dann auf die tiefroten Ziffern meines Radioweckers. „22:55“ zeigte der Wecker an. Das sah in Digitalziffern seltsam aus, viermal das gleiche Zeichen, nur verdreht. Es mutete irgendwie ein bisschen geheimnisvoll an. Die Ziffern ließen mich länger als eine Minute nicht los, diese seltsame Kombination war mir schon öfter aufgefallen. Wenn man manchmal nachts wach liegt und nicht schlafen kann, kommen einem absurde Gedanken und das Gehirn entspinnt Geschichten, weil es nicht zur Ruhe kommt. Mysteriöse Ziffern. Ich dachte an meinen Großvater, der auch immer ein wenig mysteriös war, was seine Lebensgeschichte anging. Ich dachte darüber nach, warum ich eigentlich so wenig über meinen Großvater wusste. Ein paar Tage darauf saß ich vor dem Fernseher meines Vaters, im Obergeschoss des Hauses. Ich hatte den letzten Bus vom Dorf in die Stadt verpasst und war somit ans elterliche Heim gefesselt. Ich hatte mir riesige Kopfhörer aufgesetzt und schaute langweilige TV-Talkshows. Ich starrte mit apathischem Blick in die flimmernde Röhre, während ich mir in einem sinnlosen Automatismus ganze Hände mit Erdnussflips in den Mund schaufelte. Plötzlich hörte ich einen Schrei aus dem Erdgeschoss. Meine Mutter rief laut die Treppe herauf – Sie hatte einen Anruf bekommen. Mein Opa war gestorben. Ruckartig sprang ich auf und wusste eigentlich nicht, was ich genau machen sollte. In diesem Moment fiel mein Blick auf die Digitalanzeige der Musikanlage meines Vaters. Es war genau 22.55h. johannes-graupner


Diese Geschichte habe ich zwei Tage lang allen Menschen erzählt, die mir über den Weg gelaufen sind und dann habe ich sie zu den Akten gelegt. Weil sie zu unwahrscheinlich klingt, weil sie sich nach Verfolgungswahn und sehr schlechtem Schlaf anhört. Das Blöde ist: Ich war hellwach, als sie geschah. Über meinem Zimmer in der WG ist der Dachboden. Dort steht nur Gerümpel, dort kann man auch nur schlecht wohnen, weil es kalt ist und dort auch kein Bett steht. Einmal maunzte dort der blinde Kater unseres Nachbarn um Befreiung. Keiner weiß, wie er es dort hinauf schaffte. Wir wissen nur, dass wir den Kerl gemeinsam befreiten. Vor einem Jahr ist er verstorben, ausgemaunzt. Mein Dachbodenerlebnis war vor vier Wochen. Ich habe an und für sich einen sauberen Schlaf, ohne viel Aufwachen, dafür bin ich sogar bekannt. Binnen einer Woche aber bin ich zwei Nächte in Folge aufgewacht, jeweils um drei Uhr. Nicht wegen Blasenschwäche und auch nicht, weil ich vielleicht am Vorabend sehr spät noch einen Topf mit Szegediner Gulasch verzehrt hätte: Ich bin von schweren und festen Schritten im Dachboden aufgewacht, die über meinen Kopf, über meine Zimmerdecke zogen. Erst wähnte ich mich im Traum, doch die Schritte waren zu klar. Mit meiner linken Hand packte ich den Saum der Bettdecke – um sie schnell aufschlagen zu können, um schnell aus dem Bett und aus dem Zimmer eilen zu können und die anderen fragen zu können: ihr auch? So geschah es zwei Nächte in Folge. Schwere Schritte, wie auf dem Durchmarsch, drei Uhr. Eine Person, als würde sie Gepäck tragen. Und ich bin nicht aus dem Bett gestiegen. Weil ich mich nicht getraute und weil die Schritte über den anderen Zimmern verschwanden. Halt Angst. Einen Tag behielt ich die Geschichte für mich, dann erzählte ich sie meinen WG-Kollegen. Sie lauschten still, die Mädchen schluckten. Ich argumentierte zuerst, dass es doch von einer Seite einen Zugang zum Dachboden gebe, dass also die Schritte schon irgendwie erklärbar seien. Alle schüttelten den Kopf. Es gebe nur einen Zugang zum Dachboden. Der ist mit einem Schloss versperrt und den passenden Schlüssel hat nur unser Vermieter. Punkt. Wir schwiegen dann bald, weil meine Versicherung, diese Schritte auch wirklich gehört zu haben zu klar war, als dass wir andere Bedingungen hätten diskutieren können, unter denen das Schreiten zustande gekommen ist. Seitdem habe ich nichts mehr gehört. Und weiß nur eines: Es war definitiv keine Einbildung. Was es dann war? Tja. peter-wagner


Ich selbst hatte noch kein außergewöhnliches Erlebnis, aber ich war mal Gegenstand eines solchen. Und zwar hatte ich mich im Winter und bei anbrechender Dunkelheit und Schneefall mit einer Freundin (wir waren ungefähr 15) in einem Schweizer Skigebiet verirrt. Wir hatten den letzten Lift verpasst und mussten einen Hang überqueren und auf der anderen Seite wieder runter, um zu unserer Hütte zu kommen. Meine Freundin war nicht sehr Berg-erfahren, ich auch nicht, konnte mich aber an die eisernen Regeln meiner Mutter erinnern. Die lauteten: nie ausruhen oder gar sitzen bleiben, immer in Bewegung bleiben. Meine Freundin dagegen wollte sich immer „nur kurz in den Schnee legen“, woraufhin ich sie anherrschte und es ihr glatt verbot. Wir wanderten erst den Lift hoch und dann gingen wir ziemlich blind einfach in die Richtung, in der wir die Hütte vermuteten. Ich voran, die Freundin hinterher. Und plötzlich rief sie mich und behauptete, dass um mich ein grünlicher Heiligenschein wabern würde. So eine Art fluoreszierendes Band. Viel erstaunlicher aber war, dass wir nach einer weiteren Stunde tatsächlich die Hütte fanden und uns bei dieser Nachtwanderung nichts passiert ist. christina-waechter


Ich habe in meinem Leben viele komische Erlebnisse gehabt: Ich habe mehrmals Personen tausende Kilometer entfernt in einem Hotel wieder getroffen. Ich habe einmal 100 Euro auf der Straße gefunden, ein anderes Mal 500 Euro auf einem Zigarettenautomat. Meine Mutter und ihre Halbschwester lebten 20 Jahre lang in demselben 3000-Einwohnerdorf in Sichtweite, ohne voneinander zu wissen. Und einmal war ich einer Stadt, in der das Wasser in den Kanälen plötzlich die Farbe wechselte. Es wurde lila. Übersinnlich war allerdings nichts davon. Höchstens sehr unwahrscheinlich. Aber das ist schließlich nicht dasselbe. Ehrlich gesagt tun mir Menschen mit übersinnlichen Erfahrungen ein bisschen leid. Viele von ihnen sind davon getrieben, besonders sein zu wollen. Weil sie aber sonst eher langweilig oder einsam sind, müssen sie sich durch solche Geschichten interessant machen. Irgendwie steckt dahinter immer der Wunsch nach Aufmerksamkeit. Sie bestehen dann auch immer auf dem übersinnlichen Charakter und lehnen jede andere Erklärung ab. Der Grat zur Psychose ist schmal. Fast alles lässt sich naturwissenschaftlich erklären, nur manchmal sind die Erklärungen komplexer, als man anfangs denkt. Und der Zufall ist etwas, das kein Mensch wirklich begreifen kann, sonst würde niemand Lotto spielen. Dadurch wird die Welt aber nicht langweiliger. Im Gegenteil, das macht sie nur noch faszinierender. Die Stadt mit dem lila Wasser, das war übrigens Amsterdam. Und nicht das Wasser war anders, sondern ich. philipp-mattheis


Die unglaublichste Geschichte erlebte ich ausgerechnet an einem Tag, an dem es um besonders glaubliche Geschichten gehen sollte. Es war ein Märzmorgen 2001 in Köln, ich war mitten im Aufnahmeprocedere für die dortige Journalistenschule. Nach Allgemeinwissenstest und Foto-Erkennungstest wurde ich gegen zehn Uhr morgens mit vierzig anderen Anwärtern in die Kölner Innenstadt gefahren. Wir hatten zwei Stunden Zeit, irgendwo zwischen Fußgängerzone und Dom eine spannende Geschichte zu recherchieren und sollten im Anschluss eine Reportage dazu schreiben. Wir schwärmten also aus, in die fast leere Fußgängerzone. Der eine Bettler, den es dort gab, wurde umringt. Um den Hausdetektiv eines Schuhgeschäfts wäre es beinahe zu einer Prügelei gekommen. Die Not war groß und ich selber war sehr müde. Ich hatte überhaupt keine Lust, den Müllmännern oder Dompröbsten hinterher zu rennen, um eine halbgare Geschichte daraus zu schreiben. Stattdessen beschloss ich, mich in ein Café zu setzen und mir dort schlimmstenfalls irgendetwas auszudenken – „NullBock“-Phase sagt man dazu, wenn man älter ist. Um nicht von den anderen gesehen zu werden, ging ich durch ein paar kleine Seitenstraßen und fand auch ein Café. Als ich darauf zusteuerte, bog gerade ein Stadtstreicher um die Ecke: Altes Fahrrad mit hundert Plastiktüten behängt, er selber im speckigen Anzug mit wild wucherndem Bart voller gelber Flecken. Nun gut, dachte ich, wenn er mir schon über den Weg läuft, frage ich ihn nach seiner Geschichte. Ich lud den Typen auf ein Frühstück ein - wenn er mir im Gegenzug etwas von sich berichte. Er sprach nur englisch und fing bei einem Kaffee sofort an, wilde Sachen von sich zu erzählen. Er sei Niederländer, der lange als Geschäftsmann in London gearbeitet habe, wo er in Kontakt mit Freimaurern kam. (Ich musste erst mal sehr lange überlegen, was „free mason“ bedeutet.) Der Mann erzählte weiter, wie es zum Streit mit der Freimaurer-Loge kam und wie er austreten wollte, was die anderen nicht zuließen. Sie bedrohten seine Familie, woraufhin er London verließ, auf Flucht vor den Freimaurern. So quasselte der Kerl immer weiter, und schon nach den ersten Sätzen war ich enttäuscht und bereute meine Entscheidung. Nur ein Durchgeknallter, der mir seine Alkoholmärchen erzählte, aus denen sich überhaupt nichts machen ließ, schon gar keine Reportage. Mist. Allerdings wirkte er nicht wirr, er erzählte hunderte Details seiner Flucht, in deren Verlauf ihn die Freimaurer immer wieder aufspürten, solange bis ihm das Geld ausging und er nicht wusste, wohin er noch sollte. Am ungefährlichsten war es, entschied er, als Obdachloser durchs Land zu ziehen. Sobald er in den vergangenen vier Jahren einen festen Wohnsitz hatte, war nach wenigen Tagen ein toter Vogel auf seiner Fußmatte gelegen. „Dead birdies!“ rief er immer wieder, überall seien sie gewesen, auf seinem Auto, im Briefkasten, manchmal sogar im Bett. Die Vögel waren jeweils das Zeichen, dass die Freimaurer ihn aufgespürt hatten und dass er wieder weiter musste. Die Stunden verrannen, ich hatte die abenteuerlichsten Sachen im Notizblock stehen und wusste überhaupt nicht, was ich damit machen sollte. Natürlich glaubte ich ihm nicht recht, gleichzeitig war meine Recherchezeit fast um. Ich würde aus dieser albernen Begebenheit irgendetwas stricken müssen. Wir erhoben uns schließlich und traten gemeinsam vor die Tür des Cafés. Links ums Eck hatte er sein Fahrrad abgestellt. Auf dem Sattel lag eine tote Taube, aus deren Schnabel ganz rotes Blut tropfte. Ich starrte den Vogel an. Der Typ lächelte nur traurig „Here you see! Dead Birdies, all the time.“ Paralysiert rannte ich zu dem Bus, der uns in die Prüfungsräume zurückbringen sollte. Alle andere haspelten über das schwere Los der Obstverkäufer und U-Bahn-Kontrolleure, ich hatte ein Problem: Ich hatte sicher die beste Geschichte gefunden, die es an diesem Vormittag hier zu finden gab. Aber kein Mensch würde sie mir glauben. max-scharnigg

Text: philipp-mattheis - Illustration: Katharina-Bitzl

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