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An der Ohnmacht

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Illustration: dirk-schmidt Eigentlich sollte in einer Kolumne, in deren Titel "schön" steht, nicht ständig geweint werden. Aber heute wird geweint. Weil mir nichts anderes übrig bleibt. Denn Scheitern ist manchmal nicht schön, sondern einfach nur zum Heulen. Als ich die ersten Bilder von der Seebeben-Katastrophe sah, war ich bei der Familie einer Freundin zu Besuch. Wir hatten einen tollen Tag bis dahin: Wir hatten gut gegessen, viel gelacht, einen Hühnerstall gebaut und waren im Schwarzwald spazieren. Als wir uns die Tagesthemen ansahen und ein Beitrag nach dem nächsten von der Katastrophe berichtete und immer nur die vielen entsetzten Gesichter zu sehen waren und die Leichen, die voll Schlamm waren oder von Hauswänden erschlagen – da wurde mir schlecht. Mein Kreislauf sagte: Schau dir das bitte nicht an, ich kann nicht. Die Tränen spülten wenigstens den Druck im Bauch weg. Elftausend Tote, diese Zahl erschien uns unglaublich. Aber es wurden jeden Tag mehr. Genau wie die Bilder im Fernsehen und die Nachrichten in der Zeitung. Das Fernsehen schaltete ich gar nicht mehr ein. Es war ja doch nicht zu ertragen. Die Zeitung vermeldete jeden Tag neue Zahlen der Toten und jeden Tag konnte ich aufs Neue nur denken: Wahnsinn. Nee, eigentlich dachte ich: Scheiße. Verdammte Scheiße! Heute wurde gemeldet: 150.000 Menschen sind tot. Das wäre in meiner Wahlheimat Leipzig jeder dritte Einwohner. Tot. Ich bin zum Bankautomaten gegangen und habe so viel Geld überwiesen wie ich Weihnachten für Geschenke ausgegeben habe. Besser habe ich mich deswegen nicht gefühlt. Ich war wütend auf die deutschen Urlauber im Fernsehen, die über einen verknacksten Fuß jammerten oder schnell ihre Sachen packten, um weg zu kommen. Wieso riefen sie nicht einfach Zuhause an, sagen, alles okay und helfen dann? Vielleicht aus dem gleichen Grund, warum ich mich nicht in einen Flieger setze, um zu helfen: aus Angst, Bequemlichkeit, Zeitmangel, Ausreden. Andere können das doch viel besser. Es fühlt sich nicht gut an, an der eigenen Courage zu scheitern. Einfach nur ohnmächtig zu sein. Das letzte Mal war dieses Gefühl da, als Menschen aus dem World Trade Center sprangen. Als Passagiere der entführten Flugzeuge bei ihren Liebsten anriefen, um ihnen Lebewohl zu sagen. Obwohl es drei Jahre her ist, kommen mir bei dem Gedanken an diese Telefonate immer noch die Tränen. Unglücke können machen, dass man über sich hinaus wächst. Wenn einer einen Unfall hat und eines neues Leben im Rollstuhl anfangen muss. Wenn einer den Krebs überwindet und danach das Leben richtig zu schätzen weiß. Wenn Leute enger zusammen rücken, weil ein Familienmitglied gestorben ist. Dann kann Schlimmes zu Gutem führen. Wenn einem aber außer Weinen nichts mehr bleibt, dann ist man wirklich gescheitert. Das ist nicht schön.

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