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An Weihnachten

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Illustration: dirk-schmidt Die familiäre Weihnachts-Aufführung beginnt mit dem Streit um das Bad. Das geht mich nichts an, denn ich schlafe bis das Frühstück fertig ist. Die Chefin des Hauses (Schwester) diskutiert mit der Chefin der Familie (Mama), wer nun in dieser Wohnung das Badvorrecht hat. Je nachdem, wer den Kampf gewinnt, sind Mama oder Schwester das erste Mal an diesem Tag beleidigt. Ich bin genervt, weil ich schlafen will. Der Schwager versucht, uns zu ignorieren. Er ist nur das Publikum in unserem Stück. Nach ein bis zwei Stunden sitzen wir alle am Frühstückstisch. Das erste Stimmungstief des Tages sitzt zwischen uns. Wir starren schweigend im Wohnzimmer umher und versuchen, aus der Weihnachtsdeko etwas Stimmung zu saugen. Meine Mischpoke kommt aus dem Erzgebirge, also hängt nicht nur ein Schwibbogen im Fenster, auch Räuchermännchen schmoken vor sich hin und auf einer Pyramide drehen Rehkitze ihre Kreise. Ach, da weiß man doch wieder, wo man her kommt, was wichtig ist im Leben und den ganzen anderen Quatsch. Heimatlich versöhnt starten wir in den Tag. Mama verzieht sich in die Küche. Der Schwager spielt mit der Katze. Die Schwester und ich schnallen ächzend den Baum in der Senkrechten fest. Wir werfen singend Kugeln in den Baum und stecken Lichter fest. Alles ist sehr sehr schön und harmonisch. Aber der Regisseur unseres kleinen Weihnachtsspieles ruft uns zu: "So geht das nicht! Mehr Emotionen, bitte!" Die kann er haben: Mama ruft alle paar Minuten aus der Küche über den Flur, wo dieses oder jenes Küchengerät zu finden sei. Zwischendurch flucht sie, die Schwester hätte definitiv zu wenig Küchenutensilien. Die Schwester wird erst nervös, dann aber richtig sauer. Ein klassischer Mutter-Tochter-Konflikt hat in der Küche sein Zuhause gefunden, ab und zu gehen auch Sachen kaputt. Es werden Dinge gesagt, die in einer halben Stunde definitiv zurückgenommen werden müssen. Ich versuche, meine gute Laune zu behalten, indem ich weiter und noch mehr Schmuck in die Zweige hänge. Der Schwager tut so, als wären wir alle gar nicht da. Die Schwester weint, als sie wieder ins Wohnzimmer kommt. Als sie den Baum sieht, wird das Weinen heftiger. Ich lächle sie unsicher an und stecke noch eine Kerze zu den anderen dreißig Kerzen. Dann fällt der Baum um. Das Weinen der Schwester wird angsteinflößend. Aus Solidarität weine ich auch ein bisschen mit. Das Weihnachtsspektakel hat seinen Höhepunkt erreicht. Wir halten uns eine Weile die Augen zu und atmen tief durch. Dann stellen wir den Baum wieder auf und fest, dass die Hälfte des Weihnachtsschmucks kaputt ist. Der Baum sieht jetzt viel besser aus. Bald ist auch das Essen fertig, wir setzen uns an den Tisch. Die anderen lachen mich aus, weil ich nur einen Kloß und Rotkraut auf dem Teller habe. Ich esse kein Fleisch. Die anderen haben jetzt wieder richtig gute Laune. Im Drehbuch steht nach dem Essen ein klassisches Happy End: Wir reichen uns Geschenke, bedanken uns artig, sagen "Ach, wie schön!". Dann legt Mama ein paar Rock'n'Roll-Platten auf und bittet zum Tanz. Die Kamera geht in die Totale, fährt zum Fenster hinaus, bald sieht man nur noch den Schwibbogen im Fenster und wir sind nur noch kleine, Rock'n'Roll tanzende Punkte. Dann sieht man die Lichter der Stadt, des Landes und dann die ganze Welt. Und dann muss der Zuschauer noch ein bisschen vor Rührung weinen.

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