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Auf einmal sind sie alt

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Er braucht eine halbe Ewigkeit, um ins Auto einzusteigen. Sein Weg führt nicht gleich zur Fahrertür, zuerst geht er zum Kofferraum und legt seine Krücken hinein. Dann tastet er sich nach vorne, mit kleinen Schritten, eine Hand als Stütze an der Karosserie. Dann: Tür auf, den elektrisch verstellbaren Sitz weit nach unten und noch weiter nach hinten fahren. Umdrehen. Hinsetzen. Schmerzen. Die Beine langsam in den Fußraum, die Hände leisten wieder Hilfestellung.



Mein Vater ist alt geworden. Daran gibt es spätestens jetzt keinen Zweifel mehr. Ein Bandscheibenvorfall im vergangenen Sommer. Operation, aber kaum Besserung. Eine neue Hüfte. Drei Wochen stationäre Reha. Trotzdem immer noch die Krücken. „Scheiße, das alles“, sagt er manchmal. Oder: „Das wird nix mehr.“

Es kann ein erschreckend sein, wenn wir feststellen, dass die eigenen Eltern alt werden. Weil dann plötzlich ein Gefüge auseinanderfällt, dass unsere ganze Kindheit und Jugend über uneingeschränkt Geltung hatte: Die Eltern waren diejenigen, die das Heft in der Hand hatten. Sie trafen Entscheidungen, gaben Ratschläge, sorgten für uns. Sie waren eine Konstante in unserem Leben, die mehr oder weniger gleich blieb und verlässlich war. Immer waren wir es, die sich veränderten, und unsere Eltern reagierten darauf.

Aber irgendwann begreifen wir, dass sich dieses Verhältnis umzudrehen beginnt: Wenn die Mutter zum dritten Mal von ihrem Ausflug erzählt und beleidigt reagiert, wenn wir sie auf ihre Wiederholungstat hinweisen. Wenn sie nicht mehr mitkommen in unserer schnellen Smartphone-Social-Web-Welt und wir ihnen mal wieder erklären, wie sie ein Foto aus einer E-Mail abspeichern. Wenn wir uns nach längerer Besuchspause erschrecken, wie grau, klein und zerbrechlich der Mann wirkt, der uns früher auf den Schultern einen Berg hinauf getragen hat. Jetzt braucht er schon beim Ausladen einer Kiste Wasser Hilfe.

Das Helfen an sich ist dabei nicht das Schlimme. Wasserkasten schleppen, Hecke schneiden – das ist alles kein Problem. Selbst Vergesslichkeit und mürrische Launen lassen sich ertragen, ja, können sogar manchmal unterhaltsame Anekdoten hervorbringen, über die man sich beim Bier mit Freunden amüsiert. Das  Schlimme ist, dass wir uns irgendwann nichts mehr vormachen können und akzeptieren müssen, dass all das nur Vorboten sind. Sie machen uns deutlich, dass in Zukunft wir diejenigen sein werden, die sich kümmern und sorgen müssen, obwohl wir vielleicht selbst gerade erst die Grundsteine für ein selbstständiges Leben gelegt haben. Rein nach Gesichtspunkten der Gerechtigkeit betrachtet, ist das vollkommen okay. Sie haben uns jahrelang alles gegeben, jetzt geben wir etwas zurück. Das ist fair – aber es ist trotzdem wahnsinnig traurig, die eigenen Eltern dahinschwinden zu sehen, und auch den Gedanken nicht ganz verdrängen zu können, dass sie irgendwann nicht mehr da sein werden.

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