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Auf zum Tanz auf Lava: "Calle 13" rappt den Rest der Welt an die Wand

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Als die Nachricht des Todes kam, zog sich René Pérez Juglar zurück. Sein Zorn war stark. Das FBI in Puerto Rico hatte nur eine Pressemitteilung veröffentlicht, Betreff: „Information regarding the attempted capture of Filiberto Ojeda Rios“. In dürren Worten stand da geschrieben, was geschehen sein sollte: Filiberto Ojeda Rios, Anführer der „Macheteros“, der militanten puertoricanischen Unabhängigkeitsbewegung, sei im Zuge einer Operation des FBI unter noch unbekannten Umständen verschieden, die Ermittlungen dauerten an. Das Datum der Operation: 23. September 2005. Das, dachte René Pérez Juglar, kann kein Zufall sein. Der 23. September ist der inoffizielle Nationalfeiertag Puerto Ricos, weil sich an diesem Tag einst die Einwohner der Insel gegen die spanischen Besatzer erhoben, 1868, und sich unabhängig erklärten, zum ersten Mal in der Geschichte Puerto Ricos. Das Datum, dachte René Pérez Juglar, war Absicht. Puerto Rico nämlich zählt heute zu den Vereinigten Staaten von Amerika, die USA hatten die ehemalige spanische Kolonie 1898 besetzt, seitdem ist Puerto Rico ein dem Verbund der USA zugeordneter Freistaat, manche sagen: immer noch eine Kolonie, immer noch nicht frei. Auch Filiberto Ojeda Rios vertrat diese Meinung, er gründete das „Ejército Popular Boricua“, das Volksheer Boricua, um gegen die USA und für ein unabhängiges Puerto Rico zu kämpfen. Boricua, so nennen sich die Puertoricaner selbst. Und jetzt, dachte René Pérez Juglar, haben die Schweine Filiberto genau am 23. September umgebracht. René Pérez, der gerade zusammen mit seinem Halbbruder Eduardo eine Platte aufnahm, zog sich zurück, voll Zorn, und schrieb ein Lied. Er nannte es „Querido F.B.I.“ – geliebtes FBI. Dann ging alles ganz schnell. In nur 30 Stunden nach der Bekanntgabe des Todes von Filiberto Ojeda Rios hatten Réne Pérez und sein Halbbruder das Lied eingespielt, aufgenommen, ein kleines, schnelles Video dazu gedreht und das Ganze ins Internet gestellt. Puerto Rico war in Aufruhr, viele vermuteten hinter dem Tod von Ojeda Rios Mord. Die Menschen kondolierten an seinem aufgebahrten Leichnam, sprachen mit Zorn in der Stimme und Wut im Herzen über das FBI – und hörten ein hartes, aufpeitschendes, zorniges Lied dazu: „Querido F.B.I.“ Die Karriere von Calle 13 hatte begonnen.

Calle 13, diesen Namen hatten sich René Pérez und sein Halbbruder Eduardo gegeben, weil René einst in der 13. Straße in Trujillo Alto gewohnt hatte, eine von Wächtern bewachten Straße, die jeden fragen, was er ist, bevor sie ihn einlassen: Residente, Anwohner, oder Visitante, Besucher – sonst gibt es kein Weg hinein. René nannte sich also Residente, der ihn früher immer besuchende Eduardo sich dagegen Visitante, zusammen waren sie „Calle 13“, eine unbekannte Underground-Band aus Puerto Rico, die irgendwas zwischen Hiphop und Reggaeton spielte, der peitschenden Latino-Abart des Dancehall. Kein Depp kannte sie, aber sie hatten einen kleinen Plattenvertrag, nahmen gerade ein paar Lieder auf – in diesem Augenblick kam die Nachricht des Todes von Filiberto Ojeda Rios. Mit ihrem Protestsong „Querido F.B.I“ rollten Calle 13 wie eine Welle über die Insel, binnen Tagen waren sie berühmt, jeder wollte mehr Lieder von diesem zornigen jungen Mann hören, der seine Wut in Verse gekleidet hatte, die jedem aus dem Herzen sprachen – und noch dazu so rotzig gut waren, als habe sich Eminem entschlossen, ab sofort auf Spanisch zu rappen.

Residente Foto: Calle 13 Noch während „Calle 13“ ihr Album aufnahmen, gelangten erste Lieder als Raubkopien auf die Straße, fanden reißenden Absatz, heizten den Hype an. Am 29. November 2005 erschien das Album unter dem Titel „Calle 13“. „Aber bevor das Album draußen war, hatte es schon jeder in Puerto Rico“, erinnerte sich René Pérez später. Von Puerto Rico aus sprang die Kunde von Calle 13 auf den südamerikanischen Kontinent, in Kolumbien, Ecuador und selbst in Argentinien wollte man die Reime von Residente und die Bässe von Visitante hören, vor allem die von diesem Dings, hey, hast du schon gehört, eine Bombe, ein Kracher, wie heißt dieses Lied nochmal: „Atrevete-te“ – Trau dich!

Der Song verbreitete sich wie eine Seuche. Die Mischung von Cumbia-Klängen und Reaggeton-Bässen mit den wortgewaltigen und hinterhältigen Reimen Residentes wurde erst zum heimlichen, dann zum offiziellen Ohrwurm des Jahres – vor allem wegen Liedzeilen wie jener, in der Residente einer bräsigen „Señorita intelectual“ versprach, ihre „area abdominal“ werde explodieren „wie ein Palästinenser“. Als „Calle 13“ bei den Latin Grammy Awards 2006 den Preis als bester Newcomer und für das beste „Urban Album“ gewannen, schien das nur die logische Fortsetzung des Videos zu „Atrevete-te“ zu sein, für das die Band auch noch den Preis für den besten Musikclip bekam: Darin hatte ein Rattenfänger mit seiner Klarinette Dutzende weißgekleideter „Señoritas intelectuales“ zu willenlosen Tänzerinnen gemacht – eine treffende Parabel für den Erfolg der Gruppe, die plötzlich Jedermanns Liebling war. Die breite Masse liebte Calle 13 zum Tanzen, der feine Underground liebte Calle 13 für ihre kreative Plünderung lateinamerikanischer Musikstile oder dem aggressiven Witz ihrer Lieder, in denen Residente wie nebenbei noch Puff Diddy, 2 Pac (von ihm 1-2-3-Pac genannt) und ein halbes Dutzend anderer Rapper böse disste. Calle 13 war der neue heiße Scheiß. Die Zeitungen in Puerto Rico berichteten in Schlagzeilen über die Brüder und ihren neuen Ruhm, bald darauf begann René Pérez eine Beziehung mit der puertoricanischen Schauspielerin Denise Quiñones, einer ehemaligen „Miss Universum“. Jetzt berichteten die die Journalisten vor allem über die Weigerung von Denises Eltern, den Freund ihrer Tochter zu akzeptieren: René Pérez, schwer tätowiert, schien ihnen schon wegen seines Aussehens als nicht standesgemäß, seine dreckigen Lieder aber machten ihn in ihren Augen vollends zum Rüpel. Es sah so aus, als ob sich die Geschichte von „Calle 13“ von nun an in die Regenbogenblätter verlagern werde. Dann veröffentlichte „Calle 13“ die erste Single-Auskopplung ihres neues Albums: „Tango del Pecado“, Tango der Sünde – eine ebenso gemeine wie lustige Abrechung mit den Vorurteilen, denen sich die Band ausgesetzt sah. Im Frühjahr des Jahres 2007 machten sich die beiden Brüder dann zu einer Reise durch Südamerika auf. Sie traten vor Bergmännern in Peru auf, spielten ihr „Atrevete-te“ bei Eingeborenen in Venezuela, reisten entlang der Kordilleren in Kolumbien. Nach ihrer Rückkehr veröffentlichten sie ihr zweites Album, „Residente – Visitante“, eine wunderbare Liebeserklärung an Lateinamerika: Fast jeder Rhythmus, fast jeder Musikstil des Kontinents ist hier vertreten, gemixt, gesampelt, nachgeahmt. Der Anfang des Albums aber gehört einem Kirchenchor, der im Stil eines gregorianischen Gesangs „schlimme Wörter“ verspricht, um dann in eine Opern-Arie auszubrechen, in der das geringste Schimpfwort Hurenbock ist, von allerlei schmutzigen Bezeichnungen für Geschlechtsteile ganz abgesehen. Dann beginnt Residente zu rappen: „Todos los groseros a bailar encima de lava vólcanica/ Súbele el volumen a la música satanica…..” – Alle Rüpel auf zum Tanz auf Lava, dreht die Lautstärke der satanischen Musik auf, auf zum Tanz in der Hölle…. Aber gerne doch.

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