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Aus dem Käfig ausbrechen

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Nesrin, 24, lebt in Istanbul und arbeitet in der Textilbranche.  

„Ich gehe hauptsächlich über mein Smartphone ins Internet. In der vergangenen Woche wurde Twitter geschlossen. Erdoğan hat sich einfach eine Argumentation gesucht, mit der er die Sperre gut begründen kann und trotzdem gut dasteht. Also erzählt er von gefälschten Twitter-Accounts, über die Personen imitiert werden und gegen die man vorgehen müsse. Twitter wurde darum gebeten, das zu unterbinden, das ist aber nicht passiert. Danach kam die Sperre.   

Seither konnte ich die Seite nicht mehr aufrufen - ich habe nicht direkt verstanden, wie ich die Sperre umgehen kann, also habe ich andere soziale Netzwerke genutzt. Facebook und Instagram zum Beispiel. Dort habe ich Protestbilder gepostet und auf diese Weise an der Diskussion teilgenommen. Da Erdoğan ohnehin gerade gegen jegliche sozialen Netzwerke wettert, passt das auch ganz gut, denke ich.  

Erdoğan mag Twitter schon seit langer Zeit nicht, mit den Protesten im Gezi-Park hat alles angefangen. Mittlerweile gibt es auch einen Account, der angeblich direkt aus dem Umfeld von ihm kommen soll und über den Interna aus der Politik ausgeplaudert werden. Ob das alles so stimmt, ist zur Zeit aber unklar.  

Mittlerweile habe ich mir eine App auf mein Handy geladen, mit der ich die Sperre einfach umgehen kann. Ich surfe anonym und über Umwege. Dadurch kann ich inzwischen auf Twitter zugreifen und ganz normal weitermachen. Die Sperre hat effektiv nicht besonders viel gebracht. Jetzt wurde das Twitter-Urteil aufgehoben. Die entsprechende Stelle hat 30 Tage Zeit für die Umsetzung. Noch ist Twitter geblockt.  

Sie haben jetzt




Mohammad*, 21, studiert Elektroingenieurwesen in Teheran  

„‚Banned, Not available in you area, criminal contents’, ich will diese Meldungen nicht mehr sehen. Sie erscheinen, sobald wir eine Webseite anklicken, die verboten ist. Das sind besonders solche mit politischen ‚Inhalten, die westlich-demokratische Ideen aufzeigen oder sonst irgendwie im Widerspruch zu den monarchistischen Idealen der Regierung stehen. Aber auch Pornografisches, soziale Netzwerke und alle Videoseiten, wie zum Beispiel Youtube. Wir umgehen die Sperrung mit Software wie Psiphone, Freegate, Proxyfiltern oder VPN. Das Problem: Dadurch wird das Internet noch langsamer, als es ohnehin schon ist. Ich weiß nicht, wie viele Leute sich teures, schnelles Internet leisten können, vielleicht einer von 500, für alle anderen ist es sehr langsam. Skype zum Beispiel geht unmöglich. Um Emails zu checken, muss man hier ewig warten.  

Was uns an der Zensur stört ist, dass wir uns wie Dummköpfe fühlen müssen, die nicht unterscheiden können, was gut und was schlecht ist. Wie glaubt ihr, dass es sich anfühlt, wenn jemand sagt: Ich entscheide, was gut für dich ist und was nicht?  

Die Sperrungen umgeht fast jeder. Deswegen steht darauf auch keine Strafe. Wenn die Regierung anfinge, uns dafür zu bestrafen, müsste sie alle bestrafen. Wer allerdings politische Inhalte veröffentlicht, der wird belangt. Ein Freund von mir wurde verhaftet, weil er gepostet hat, wie ihn der Geheimdienst bei einer Befragung behandelt hat. Sie hätten ihn innerhalb einer Stunde zu sich beordert und scharf angegangen. Heute geht er kaum noch aus. Als ich ihn neulich treffen wollte, sagte er: ‚Nein, Mohammad, ich möchte dich nicht in Gefahr bringen.’

Wegen solcher Vorfälle zeigen die Leute in sozialen Netzwerken nicht ihr wahres Gesicht. Sie tragen dort zwar ihren richtigen Namen und laden Fotos von sich selbst hoch. Aber was sie veröffentlichen, verleugnet ihre Einstellung. Für mich ist die schlimmste Folge der Zensur und Überwachung, dass die Leute im Internet lügen. Sie verstecken sich und stellen sich anders dar, als sie es sind – und sein wollen.“  

*Name geändert  


Protokoll: Anne Kratzer    


Liang, 23, studiert in Shanghai Internationale Wirtschaft.  

„Als ich für ein Auslandssemester in Salzburg gelebt habe, war ich jeden Tag auf Facebook und Wikipedia. Zurück in China fühlte ich mich plötzlich abgeschnitten von der Welt, da Facebook, Twitter, Youtube und ‚heikle’ Artikel bei Wikipedia gesperrt sind. Darunter fallen zum einen die drei großen Tabus - Tian’anmen, Tibet, Taiwan -, zum anderen vor allem Kritik an Partei und Zentralregierung. Kritik an einzelnen Missständen oder an unteren Regierungsebenen ist dagegen oft erlaubt, weil sie eine wichtige Ventilfunktion erfüllt. Die Regierung kann dann so tun, als sei sie offen, ohne es wirklich zu sein und das Volk kann etwas Dampf ablassen.   

Es gibt natürlich VPN-Programme, mit denen man die Sperren umgehen kann, aber sie kosten in der Regel etwas. Lange Zeit war ich zugegebenermaßen zu faul, um mir eins zuzulegen. Es gibt ja für jede Seite eine chinesische Version. Weibo ist das chinesische Twitter, Baidu das chinesische Google und Youku das chinesische Youtube. Wer sich nicht für Politik interessiert, und das sind die meisten, merkt selten, dass es die Sperren überhaupt gibt. Die Betreiber von Weibo zum Beispiel haben eigentlich auch kein Bock auf die Zensur. Wenn's nicht um die großen Tabus geht, die schon per automatischer Schlagwort-Filterung aussortiert werden, lassen die Betreiber die Kritik meistens erstmal laufen. Natürlich können sie nichts machen, wenn von oben die Order kommt, dass man dieses und jenes löschen muss. Die Nutzer denken sich aber ständig neue Wege aus, wie sie die Zensur austricksen können. Das Tian’anmen-Massaker vom 4. Juni 1989, als das chinesische Militär in Peking gewaltsam Proteste niederschlug, bezeichnen sie zum Beispiel als 35. Mai. Oder sie stellen einen Text als JPEG online, dann können die Computer kritische Begriffe nicht automatisch rausfiltern.   

Bis vor kurzem waren viele ausländische Nachrichtenseiten wie die Financial Times und Wall Street Journal gar nicht blockiert. Zur Sicherheit habe ich trotzdem meistens Artikel gleich per Copy-Paste in Word kopiert. Man weiß ja nie. Seit etwa einem Jahr zensiert die Regierung das Internet aber immer stärker, heute sind die Seiten von New York Times, FT und WSJ in China nicht mehr aufrufbar. Das und die Tatsache, dass ich mit meinen ausländischen Freunden Kontakt halten wolle, hat mich letztendlich dazu bewegt, endlich ein VPN zu kaufen, für sieben Dollar im Monat. Seitdem surfe ich wieder stundenlang im Netz und kann alles lesen, was mich interessiert. Ich fühle ich mich wie ein Vogel, der aus dem Käfig ausgebrochen ist.“  


Protokoll: Xifan Yang     



Text: jetzt-redaktion - Foto: rtr

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