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Das Leben ist kein Film

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„Ich habe noch nie meine Brille abgenommen, meine Haare geöffnet und war danach 9000-mal attraktiver als vorher.“ So steht es in einer mit „Our life ist not a movie“ überschriebenen kleinen Sammlung von Szenen, in die man im wahren Leben nie gerät, die man in Filmen aber ständig sieht. Unser Leben ist kein Film – wenn man das hört, muss man spontan „Genau!“ schreien. Denn verrückt wäre, wer auf die Startbahn liefe, um aus lauter Liebe ein Flugzeug anzuhalten, und zum Glück steht auch nie auf einmal ein Fremder hinter einem, wenn man den Spiegelschrank zumacht.



Doch nachdem man „Genau!“ geschrien hat, muss man einsehen, dass Filmszenen sich sehr tief in uns hinein gewühlt haben. Ständig brodeln sie in unseren Bäuchen und Seelen und Herzen hoch, mischen sich in unsere Sicht der Dinge und in unsere Gespräche ein. Dabei geht es gar nicht um das schon tausend Mal gehörte „Filme haben mir ein falsches Bild von Liebe vermittelt“-Blabla, sondern viel eher darum, dass das Leben durch diese Durchdringung mit Kinosequenzen eben doch zu einem sehr, sehr langen Film voller Referenzen wird.

Da sitzt man zum Beispiel an einem grauen Sonntag beim späten Frühstück, hat Ränder unter den Augen, trägt die ungeputzte Brille und hat das stumpfe Haar am Hinterkopf zusammengeknödelt. „Wie ich heute aussehe!“, sagt man dann vielleicht und fügt hinzu: „So wie das hässliche Entlein im amerikanischen Collegefilm!“ Und jeder, der mit am Tisch sitzt, wird verstehen, was gemeint ist, und die Marmeladenbrötchen in den Händen werden kurz ein bisschen wackeln, weil alle ein bisschen kichern. Der Satz „Das ist so wie in...“ ist sicher jedem schon ein- bis hundertmal untergekommen und er ist ein echter Themen-Booster und Unterhaltungspluspunkt. Aufpassen muss man nur bei ausgesprochenen Filmekennern: Die machen das weniger auf einer gemeinsamen Basis als vielmehr aus ihrem geballten Wissen heraus und ihr „Das ist so wie in...“ führt nicht selten zu einem „Kenn ich nicht“ und zu einem schnellen Themenwechsel, um das schier unerträgliche Nacherzählen eines Filmplots zu verhindern.



Das ist die fröhliche, gesellige Seite des Lebens mit den Referenzen. Anders verhält es sich bei allen traurigen Alltagsszenarien: Bei Abschieden für längere Zeit oder noch schlimmer: bei Liebeskummer. Umarmungen, feuchte Augen, abfahrende Züge, da spielt im Kopf immer ein ganzes Orchester wehmütige Auf-Wiedersehen-Klänge und fast meint man, den ICE hupen zu hören und dampfen zu sehen, man könnte ein weißes Taschentuch schwingen, den Bahnsteig entlang rennen, ebenso wie man sich, allerdings gar nicht traurig, beim Begrüßen auf den anderen zustürmen und von ihm durch die Luft gewirbelt werden sieht. Macht man alles natürlich nie, denkt aber oft dran.

Leidet man an Liebeskummer, wurde man böse abserviert oder enttäuscht, dann fühlt man sich zu allem Überfluss auch noch wie der Protagonist eines wirklich schlechten Films – Berge von benutzten Taschentüchern neben dem Bett, der Hang zu großen Eisbechern und warmen Wolldecken oder das Bedürfnis, mit geballter Faust irgendetwas kaputtzuschlagen: einen Spiegel, einen Bilderrahmen oder die Nase des Nebenbuhlers. In all der großen Verwirrung verwirrt es einen zusätzlich, dass man gar nicht mehr so genau weiß, ob man sich gerade verhält wie im Film oder ob die Menschen im Film sich bloß so verhalten wie man selbst. Dann weint man noch mehr, weil man nicht nur Liebeskummer sondern auch noch den Otto-Normal-Virus hat – wer soll einen schon toll finden, wenn man nicht mal individuell liebeskummern kann?

So hangelt man sich von Referenz zu Referenz, vergleicht und gleicht ab und assoziiert und muss manchmal sogar aufpassen, dass es einem nicht peinlich ist, wenn man etwa fein angezogen eine Treppe hinunterläuft, beim Autofahren den Arm in den Fahrtwind hält oder auch einfach nur aufs Meer hinausschaut. Das Leben ist nämlich nicht etwa kein Film, im Gegenteil: Es ist manchmal viel zu viel Film.

Text: nadja-schlueter - Bilder: Screenshots / formyhour.com

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