Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Dem Wunder die Hand hinhalten

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Wir stoßen jetzt vor zum Mark des Lebens, zu fünf Gedichten.

Das klingt anstrengend und nach Deutschunterricht, aber: Gedichte können wie eine Rettung sein oder wie eine Fähre zum Sinn des Lebens. Solch eine Fähre braucht jeder, irgendwie, und wenn es nur eine kleine ist und wenn auch der Zielhafen nicht angeschrieben ist.

Hilde Domin hat uns Fähren geschrieben. Sie starb in dieser Woche, mit 96 Jahren.

Sie hat viel an Schulen gelesen, war unterwegs im ganzen Land und die helle Freude aller Deutschlehrer, die dachten: Herr im Himmel, wenn meine Klasse irgendwann einmal etwas mit Lyrik anfangen kann, dann doch bei Domin! Die schreibt doch Gedichte wie kleine Glocken, die du einmal liest und gleichsam anschlägst und deren Hall dich an Orte treibt, ach, vorher nie gewesen! Die hat geschrieben, indem sie Sätze eingekocht hat auf eine Kürze, fast unheimlich, und trotzdem tragen die Worte noch alles, was zur Beschreibung ganzer Gefühlswelten nötig ist. Du kannst den ersten und den letzten Liebesbrief Deines Lebens mit Domins Versen beginnen, und es wird nie peinlich sein, immer Gewinn, egal in welchem Alter, die Worte sind frisch.

„Vollkommenheit im Einfachen“, sagten wichtige Menschen über ihr Schreiben.

Für die kurze Beschreibung von Domins Leben braucht es einige Kommata. Geboren 1909 in Köln, Tochter eines jüdischen Anwalts, Studium Jura, Nationalökonomie, Soziologie, Philosophie. Emigriert 1932 mit Erwin Walter Palm nach Rom, nach Florenz, nach England und 1940 in die Dominikanische Republik. Sie war Lehrerin, Übersetzerin, Architekturfotografin und kam 1954 zurück nach Deutschland, in das Land, aus dem sie geflohen war. Das Ende eines Exils.

Sie sagte oft: „Hilde Domin gibt es erst seit 1951.“ In jenem Jahr starb ihre Mutter und Domin begann Lyrik zu schreiben. „So sind die meisten Gedichte aus Kummer und Leid heraus geschrieben“, sagte sie.

Ihre Worte drehen sich um das nie Ankommen, um Wurzeln und um Liebe. Vielleicht hat sie in Gedanken auf einer Fähre gewohnt, ständige Überfahrt. Sie hat uns viele kleine Fähren hinterlassen. Arzneien für das Leben. Um es durchzuhalten.

Danke, Hilde Domin!

Fünf Gedichte aus dem Band „Hier“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main):

1. Schneide das Augenlid ab: fürchte dich.

Nähe dein Augenlid an: träume.

2. Die Freude dieses bescheidenste Tier dies sanfte Einhorn

so leise man hört es nicht wenn es kommt, wenn es geht mein Haustier Freude

wenn es Durst hat leckt es die Tränen von den Träumen.

3. Wer es könnte die Welt hochwerfen daß der Wind hindurchfährt.

4. Das Gefieder der Sprache streicheln Worte sind Vögel mit ihnen davonfliegen.

5. Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.

  • teilen
  • schließen