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Der Blickwechsel

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Viele junge Menschen fahren nach dem Schulabschluss für ein Freiwilliges Soziales Jahr ins Ausland. Um Erfahrungen zu machen und zu helfen, wo es nötig ist. In der deutschen Debatte werden die Freiwilligendienste oft als selbstsüchtige Sinnsuche dargestellt. Die ehemaligen Freiwilligen Christian Weinert, 33, und Ferdinand Carrière 28, waren in Südafrika, Ghana und Gambia, um die Menschen in den Projekten vor Ort zu fragen, was sie von den Freiwilligen halten. Ihren Film "Blickwechsel" zeigen sie derzeit auf Festivals in ganz Deutschland.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Ferdinand Carrière

Wieso wolltet ihr einen Film über Freiwillige machen?
Christian: Zunächst ist es immer spannend zu erfahren, wie andere über einen denken. Außerdem gibt es eine Lücke in Veröffentlichungen über Freiwillige im Ausland. Meistens kommen die Akteure, die alltäglich mit den Freiwilligen konfrontiert sind in Diskussionen und Berichterstattung nicht zu Wort. Deren Perspektive spielt in der Debatte um Freiwilligendienste kaum eine Rolle. Der Film ist ein Beitrag, dieser nicht unerheblichen Lücke Aufmerksamkeit zu geben.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Christian Weinert

Im Film erzählt Michael Makhathini, dass er gute von schlechten Freiwilligen unterscheiden kann. Er ist Schüler und wurde von mehreren Freiwilligen-Generationen unterrichtet. Einige wollten nur etwas erleben und sich nicht auf die Leute und ihre Sorgen einlassen. Andere helfen schon und wenn sie weg sind, merkt man, etwas fehlt. „Aber es ist jetzt auch nicht so, als ob sie den Ort revolutionieren würden“, sagt er.

Marvin Willeman ist Projektkoordinator in einem Jugendzentrum und ist zufrieden mit den Freiwilligen. Er würde sich aber mehr Freiwillige aus der Gegend wünschen, statt aus Europa. Sinnvoller für ihn wären lokale Praktikanten, die langfristige Vorbilder für die Kinder in seinem Projekt sein könnten. Viele der Projektmitarbeiter erzählen ähnliche Geschichten. Freiwillige, die kommen und gehen und oft weniger verändern können, als sie zu Beginn erwarten. Dass sie meistens nicht für die Stellen ausgebildet sind, die sie besetzen, ist für die Projektmitarbeiter manchmal enttäuschend.

In eurem Film kommen die Freiwilligen gar nicht so gut weg. Es werden auch immer wieder Argumente gegen Freiwilligendienste genannt: Sprachbarrieren, geringe Spezialisierung, zu kurze Anwesenheit, um wirklich etwas zu verändern. Hat euch das überrascht?
Christian: Was mir noch mal klar geworden ist: Wenn man einen Freiwilligendienst anfängt, fühlt sich das Jahr ewig an, für die Leute dort ist man aber nur einer von vielen. Für sie war es immer viel klarer, dass man nur eine bestimmte Zeit dort bleibt. Wie in einer WG, wo es verschiedene Zwischenmieter gibt. An manche erinnert man sich lieber als an andere. Die Wahrnehmung des Zwischenmieters wird immer stärker sein, als die der ständigen WG-Mitglieder, wo ein Zwischenmieter den nächsten ablöst. Die Freiwilligen kommen in unserem Film auch nicht nur negativ weg. Es gibt auch Leute, die den Film als freiwilligenbejahend einschätzen. Andere sehen ihn kritischer. Wir wollten da keine Richtung vorgeben.

Hlengiwe Dludla, eine Gastmutter in Südafrika, zeigt Fotos: Sabine, Lena, Deborah, Steffi, Hannah. „Schwer, sich alle Namen zu merken, es sind so viele“ sagt sie. Sie hat mit 25 deutschen Freiwilligen in einem Pflegefamilienprojekt zusammengearbeitet. Zuerst dachte sie, die „Mlungu“, die Weißen, könnten nachts zu Geistern werden. Sie merkte schnell, dass das nicht stimmt. Für sie haben die Freiwilligen den Alltag mit den Kindern im Projekt erheblich erleichtert.

Was gibt es denn aus eurer Sicht für Missverständnisse?
Christian: Die Freiwilligen haben zum Teil das, was man eine selbstbezogene Motivationen nennen könnte: Sie gehen zum Beispiel ins Ausland, um „den eigenen Horizont zu erweitern“. Das ist völlig legitim, kann aber zu Widersprüchen und Herausforderungen führen, wenn es in den Gastfamilien auch Eigeninteressen gibt – materielle zum Beispiel.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Khelo

Michael Makhathinis Schwester Khelo ist enttäuscht. Ihr hatte ein Freiwilliger versprochen, ihr die Ausbildung zu finanzieren – und sich dann nie wieder gemeldet.
Sie hatte darauf gebaut und kann sich die Ausbildung alleine nicht leisten. Solche Versprechungen höre sie immer mal von Freiwilligen. Für sie sei es schwer zu ertragen, wenn sie gebrochen werden. Eigentlich war sie aber immer froh über die Freiwilligen, die ein offenes Ohr für sie haben.

Was würdet ihr den Besuchern mit auf den Weg geben, damit das besser läuft?
Christian: Eine gute Voraussetzung ist es auf alle Fälle, sich selbst auch mal in Frage stellen zu können, Geduld zu haben und eine Wertschätzung des Aufenthalts zu haben, auch wenn nicht alles perfekt läuft. Weil das einfach ein wahnsinniges Privileg ist, so was machen zu dürfen.

Wie war denn die Reaktion der Freiwilligen auf den Film?
Ferdinand: Viele der Freiwilligen hier in Deutschland reagieren auf den Film 
sehr emotional, weil er an ihr Jahr im Ausland erinnert. Dass sie nicht 
zur Sprache kommen, wirkt gelegentlich irritierend, wird aber positiv 
aufgenommen. Ich glaube, der Film interessiert gerade deshalb viele 
Freiwillige, weil sie sich während ihres Dienstes immer gefragt haben, 
was eigentlich die Leute über sie denken. Deshalb kommt die Perspektive, 
die wir gewählt haben, so gut an.

Ein Lehrer in Gambia erzählt, dass andere Dorfmitglieder für ihn die Preise erhöhen, weil er mit den weißen Freiwilligen zusammenarbeitet. Dabei profitiere er finanziell überhaupt nicht von ihnen. Für ihn ist die Hilfe, die die Freiwilligen vor Ort leisten können gut, aber begrenzt: „Auch, wenn die Freiwilligen helfen wollen, es klappt nicht so gut, weil sie oft die Sprache der Menschen hier nicht sprechen.“ Er glaubt, dass die Freiwilligen erst wirklich etwas für den afrikanischen Kontinent verändern können, wenn sie nach Deutschland zurückkommen und sich dort in die Politik einmischen.

Glaubt ihr, die Freiwilligen können für die Menschen dort etwas verändern, wenn sie wieder in Deutschland sind, mit dem Wissen und den Erfahrungen aus ihrem FSJ?
Christian: Ja es gibt extrem viele ehemalige Freiwillige, die sich in Diskurse um Migration und Asyl einmischen und aktiv werden. Viele bringen sich auch in freiwilligenkritischen Diskursen ein und versuchen, im Nachhinein die Organisation der Freiwilligendienste zu verbessern. Die werden nach dem Aufenthalt aufgrund ihrer Erfahrung dort aktiv. Aktiv zu sein setzt natürlich keinen Freiwilligendienst voraus, aber ich glaube, dass dieser gewaltige Erfahrungsschatz mit all den Widersprüchen und Herausforderungen hilft, sich politisch zu engagieren. Ich glaube so ein Aufenthalt kann nachher eine viel stärkere Wirkung entfalten, als das, was vor Ort passiert.

Ferdinand: Ich habe das an mir selbst erlebt. Für mich war der Freiwilligendienst echt eine prägende Zeit. Ich war damals vielleicht auch ein bisschen naiv und habe die Vorbereitungs- und Zwischenseminare nicht sehr ernst genommen. Aus meinen Freiwilligendienst ist trotzdem viel entstanden: Ich habe danach angefangen, Afrikanistik zu studieren und mich mit Dokumentarfilmen in Afrika auseinandergesetzt. Das wäre sonst wahrscheinlich nicht passiert. Ich kann jetzt auch etwas zurückgeben, was ich damals gelernt habe.

Euer nächstes Projekt dreht sich um Migration nach Europa. Ihr wollt auch wieder einen Perspektivwechsel. Warum?
Ferdinand: Ja, in unserem kommenden Film wollen wir herausfinden, wie das Bild von Europa in Afrika aussieht. Die Migranten in Deutschland werden zwar sehr viel befragt, aber die Leute in Gambia zum Beispiel nicht. Da interessiert uns, was sich die Leute unter diesem „Paradies Europa“ vorstellen, bevor sie nach Deutschland gehen. Was ist deren Perspektive auf die Migrationsdebatte.


Text: pia-rauschenberger - Fotos: oh

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