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Die Familie als Gegner - Sportabzeichen mit Mama und Papa

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„Die Birken, Christoph, denk an die Birken!“ Erika meint es gut mit mir. Sie will, dass ich die 7,25-Kilo-Kugel in die Richtung der Birken wuchte, die 50 Meter hinter dem steinernen Kugelstoßring stehen. Genau genommen möchte sie, dass die Kugel hoch hinaus fliegt. So funktioniert Kugelstoßen. Ich muss acht Meter schaffen. Also – Handgelenk steif, die Drehung mit Schwung und die Kugel ab in die Birken. 7,83 Meter. Erika sieht mich enttäuscht durch ihre Brillengläser an.

Das Prinzip Sportabzeichen: Ehrgeiz Mittags hatte ich im Fernsehen bei der Leichtathletik-WM vier Frauen gesehen, die 100 Meter in ziemlich genau elf Sekunden liefen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein oder zwei von ihnen, vielleicht auch alle gedopt waren. Ich war trotzdem beeindruckt – und hatte mich gefragt, wie lang ich wohl inzwischen, praktisch vom Sofa weg für 100 Meter brauchen würde. Abends dann gehen meine Eltern auf den Sportplatz, um das Deutsche Sportabzeichen zu machen, wie jedes Jahr. Ich gehe mit – zum ersten Mal seit meinem 14. Lebensjahr. Es sollte nur ein Spaß sein: Ich wollte mal eben die 100 Meter laufen, über die eigene Zeit lachen, vielleicht noch zum Weitsprung. Dann über die Eltern schmunzeln, wie sie sich im 50-Meter-Sprint abmühen und über die rund zwanzig anderen Hobbysportler hier. Manche von ihnen sind acht Jahre alt sind, andere 65, aber alle so viel untrainierter als die Leichtathleten im Fernsehen und deren Bewegungen deshalb so viel ungelenker, langsamer, gequälter aussehen. Die sich im Standweitsprung abmühen, beim Steinwurf und mit dem Schleuderball. Und jetzt stehe ich hier mit Erika, einer Mittsechzigerin, die einen roten Pulli trägt, auf dem „Team“ steht und die als Offizielle die Leistungen auf Zentimeter und Hundertstelsekunde beurkundet, und der Kugel und schaffe die acht Meter nicht. Das ärgert mich und ich ärgere mich, dass mich das ärgert. Erika hat nichts zu beurkunden. Das Sportabzeichen hat mich gepackt und spielt mit meinem Ehrgeiz. Eichenlaub für Feierabendathleten Und genau so funktioniert das Prinzip Sportabzeichen seit 1912: In fünf Disziplinengruppen – grob gesagt drei Leichtathletikdisziplinen, eine Schwimmübung und eine Ausdauerleistung – müssen bestimmte Leistungen gebracht werden und wer das schafft, darf sich ein Abzeichen an die Brust heften, das mit einem stilisierten Eichenlaubkranz die Ordensästhetik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konserviert. Wer das Sportabzeichen fünf Mal schafft, kriegt die Goldausführung. Böse gesagt: Es ist das Eiserne Kreuz des Freizeitsportlers. Und das will ich jetzt haben. Verdammter Ehrgeiz.


Die Anforderungen sind nach dem Alter der Teilnehmer gestaffelt. Das führt dazu, dass mein Vater bei seinem 50-Meter-Rennen fast von meiner Mutter geschlagen wird und seine rund 92 Kilo auf geradezu tollpatschige Art ins Ziel schmeißt, schwer atmend auf der Laufbahn sitzt und bedröppelt schaut – bis er von seiner Zeit erfährt, die „ja besser ist als im letzten Jahr.“ Das sagt er dann noch ein paar Mal an diesem Abend, zum Beweis holt er zu Hause sein Urkundenheft für Männer raus, Ausgabe 1958. Ich dagegen laufe 100 Meter in 14,7 Sekunden. Damit schlage ich zwar meinen alten Handballtrainer Uwe neben mir um knappe vier Sekunden. Aber Uwe ist über 60. Er hat seine Zeit geschafft, ich nicht. 13,6 Sekunden müsste ich laufen - aussichtslos. Für 20 bis 29-jährige sind die Bedingungen am schwierigsten. Uwe sieht mich an und lacht. Dann macht er Witze mit meinem Vater. Die beiden haben früher zusammen Handball gespielt. Kurze Freude, dann wieder Kugelstoßen Zwei Tage später bin ich wieder da: Das 100-Meter-Experiment habe ich abgebrochen, alternativ kann ich auch 1000 Meter laufen. Dafür habe ich meinen Bruder mitgebracht. Der war vor ein paar Jahren Jugendmeister über 800 Meter, der zieht mich jetzt. Das hat Überredungskünste gebraucht, aber hier geht’s ja schließlich um einiges. Er macht seine Sache gut, im Ziel haben wir noch 20 Sekunden Zeit. Kurze Freude, dann nimmt Erika mich wieder mit zum Kugelstoßen.

Schlechte Laune und hereingefallen auf den eigenen Ehrgeiz Die ersten vier Versuche landen eindeutig diesseits der mit den Schuhen in die Asche gezogenen Achtmeterlinie. Der fünfte Stoß geht darüber, aber ich stolpere unkoordiniert nach vorne aus dem Ring – ungültig. Erika fängt wieder an, von den Birken zu reden. Schlimmer noch: „Komm, denk mal an was, was Dich heute so richtig geärgert hat. Und dann mit Wut!“ Grundsätzlich wird das Ehrenamt in Deutschland nicht hoch genug bewertet. Den ganzen verregneten Sommer über steht Erika mit ihren Kolleginnen zwei Mal in der Woche hier und misst die sportlichen Leistungen von Feierabendathleten wie mir, die meistens so ehrgeizig wie talentfrei sind. Das verdient viel Anerkennung. Eigentlich mag ich Erika. Aber ihre gut gemeinten Worte regen mich auf. Mich hat heute nämlich nichts geärgert – bis ich begonnen habe, mich mit dieser vermaledeiten Kugel abzumühen. Die nächsten sieben Versuche werden auch nichts. Inzwischen verfluche ich das Sportabzeichen und mich selbst, weil ich auf den spießigen Reiz hereinfalle. Mein Bruder sieht mir meinen Ärger an und lacht mich aus. Er nimmt sich die Kugel – 8,50 Meter. Dann kommt Beate, 36, vorbei. Sie braucht sechs Meter, stößt sechs Meter und geht wieder. Das kann doch alles nicht wahr sein. „Komm, Christoph, jetzt aber! In die Birken!“ Erika ist unermüdlich. Also noch mal: Kugel an den Hals, zwei Hüpfer nach vorn, Drehung, Stoß. Ich taumle durch den Ring, stolpere nach vorne rechts raus, die Kugel schlägt genau auf der Schuhmarkierung auf. „Ungültig“, sage ich. „Quatsch, Du bist zur Seite raus, das gilt“, sagt Erika, „den messen wir jetzt.“ 8,05 Meter. Wie gesagt, ich mag Erika. Fotos: Christoph Becker christoph-becker

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