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Die Gewinner des Schreibwettbewerb

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Der Gewinner-Text: Überzeugungssterben Von Martin G. Berger Menschenmassen pressten sich ihm entgegen. Anonym, gesichtslos, fleischlos fleischig, farblos bunt. Einzelne Gesichter nahm er immer wieder wahr, versuchte sie zu rezipieren, ihrer Herr zu werden und die Gedanken, die ihm bei ihrem Anblick durchs Hirn schossen, zu ordnen. Aber das Tempo war zu hoch. Das Tempo war einfach zu hoch. Morgen. Morgen würde es nicht geben. In gewisser Weise war das auch beruhigend. Sorgen sind zukünftige Gespenster, die Frage nach dem weiter, nicht nach dem jetzt. Jetzt ist Zustand. Jetzt ist sein. Morgenleben war das Problem. Wie oft hatte er sich gefragt, was morgen wäre. Wenn er aufhören würde mit all dem. Wenn er rausrennen würde, schreien, neinneinneinnein, sonicht, sowillichnicht, lasst mich in Ruhe, Ruheruheruhe. Morgenleben wäre dann warscheinlich auch nicht mehr die Frage gewesen. So hatte er Einfluss darauf. Warum er sterben wollte, war ihm klar. Aber es gab zwei Ebenen bei diesem Wunsch. Er war nicht der Mensch, der über das Internet suchte, nach Tötenwollern, suizidaltouristisch. Aber er sah keinen Ausweg. Eine Ebene war das, was er wissensollte. Er sollte und er wollte. Wie ein Schwamm hatte er Informationen aufgesogen, die dem Nahrung gaben, das tief in ihm schlummerte, Hass, purer Hass war das gewesen. Er hatte nicht gewusst, dass er so hassen konnte, aber er hatte es geahnt und er wollte es geahnt haben. Seit Aysche nur noch an die Wand gesehen hatte, tagelang, wochenlang, bis sie nicht mehr an die Wand hatte starren können und ihre Konsequenz zog, war es ihm ein Bedürfnis gewesen, dieses Etwas in ihm aufsteigen zu lassen, das er an Anderen bewundert hatte, einfach, weil es außerhalb seiner Reichweite war. Und jetzt war er drin. Rausgehtnicht. Das war Ebene zwei. Ein Blick traf ihn durch den Sehschlitz. Ein Blick, der ihm nicht aus dem Kopf ging. Das fleischlose Fleisch hatte plötzlich einen Blick bekommen, der ihn von nun an verfolgte. Auch als er in die Straße einbog, die seine Bühne werden sollte. Eine Bühne, hell beleuchtet und dicht bevölkert, eine Bühne, die alle Sinne ansprach. Musik klang hier durch die Luft, aus den kleinen Läden, Musik, die einem Nichtvertrauten fremd und gleich vorkam, in ihm aber Erinnerungen weckte. Hatte er nicht eben noch in seinem Zimmer gesessen und hatte aus dem alten, scheppernden Radio diese Melodie vernommen? Shalalalala... Die Gefühle, die die Musik in ihm auslösten, vermengten sich rauschartig mit dem Geruch von Safran und anderen lautstark feilgebotenen Gewürzen und schraubten sich albatrosgleich in die Höhe, als sie auf den Blick trafen. Blickgefühle. Musik. Nichtmanselbstsein. Aysche hatte kein Wort mehr sagen können. Wer schuld war, war klar. Ist klar. Klarklarklar. Eigentlich wusste er gar nicht, was passiert war. Er war erfahrungslos in diesem Bereich. Und ihm konnte nicht klar sein, dass das, was er vergelten sollte, das war, mit dem er vergolten werden würde. Nach dem Big Bang. Einige Male hatte er sich Gedanken gemacht über das. Und es hatte ihn geängstigt. Ein tiefer Schlaf wäre ihm lieber gewesen. Er schlief gerne traumlos. Traumlos schlafen hieß Auszeit. Hieß Leere. Hieß nichtsmüssen, nichtskönnen, nichtswollen. Wenn er sich vorstellte, dass auf ihn Mädchen warteten, war das beunruhigend. Wohlmöglich nackte. Nur ein einziges Mal hatte er – zufällig – Aysche und eine Freundin beim Duschen heimlich beobachtet. Ihre kleinen Brüste mit den frechen Brustwarzen, von denen das Wasser tropfte und die Seife, die sich dann ihre Bahn suchte, körperabwärts, den Bauchnabel umspielte und dorthin floss, wo. Es hatte ihn so sehr erregt, dass er. Hundert war eine große Zahl für einen kleinen Mann. Jungen. Für ein Kind. Langsam merkte er am Rücken, wie viele Kilo er mit sich herumschleppte. Das Paket drückte vorne auf seine Blase, ließ seine Schultern hängen und den Rücken schmerzen. Wochenlang hatte er gelernt, das zu ignorieren. Wer seltsam läuft, fällt auf. Wer auffällt, fliegt auf. Wer auffliegt, wird gestoppt. Wer gestoppt wird, hat nichts zu lachen. Der Lehrgang war auch nicht zum lachen gewesen. Er hatte ihm das Nichtmehrlachen gelehrt. Wie er es gewollt hatte. Aber er war immer noch schwach. Ein Blick brachte ihn durcheinander. Ein Gedanke an zwei nackte Mädchen, an die nassen Körper, das fröhliche Gegacker. Die Musik. Der Geruch. Das alte Radio. Schwachschwachschwach. Schwach. Lachen. Nein. Lachen. Nein. Blick. Nein. Brüste. Nein. BLICKBRÜSTEBLICKBLICKRADIOBRÜSTEBRÜSTEBRÜSTEBRÜSTEBLICK. Es wusste, dass er wahnsinnig werden würde. Lange konnte er nicht mehr warten. Sonst würde man misstrauisch. Würde glauben, er sei seltsam gelaufen. Sei aufgefallen. Sei aufgeflogen. Sei gestoppt. BLICKBLICKBLICKBRÜSTEBLICK. Hoffentlich war der Blick schon außer Reichweite. Hoffentlich hatte sie sich nicht einlullen lassen von den Gerüchen, den Klängen, den Blicken, dem bunten Fleisch, seiner Bühne. Hoffentlich war sie nach Hause gegangen, zu ihrer Familie und hatte sich ausgezogen, geduscht vielleicht. Warum war er so schwach? Er wollte sterben wollen. Und es blieb ihm nichts. Das war Ebene zwei. Plötzlich hörte er seinen Namen. Wieder. Aufgefallen, aufgeflogen, gestoppt. Wieder. Gestoppt. Gestoppt. Er drehte sich um und sah Aysche. Sie winkte ihm zu. Sie gestikulierte. Sie wusstewas. Wusstewas. Wusstewas. Wieder. Tu es nicht, formten ihre Lippen. Wofür? Aus Überzeugung, dachte er. Es ist Überzeugungssterben. Wer meiner Schwester etwas antut, muss büßen. Muss sehen, dass es nicht vorbei ist. Muss sterben. Aysche hatte sich durch Blicke, Musik und Safran an ihn herangefochten. Sie stand so nah, dass er ihren Atem hörte, ihr Brüste auf und ab gehen sah, ihren Geruch wahrnahm. Sie roch so gut. Wut kochte in ihm auf. Sich zu vergreifen an etwas, das so roch, das so lachte, war ein Verbrechen. Und es war klar, wer schuld ist. Ist klar. Klarklarklar. Für wen, flüsterte Aysche, die so nah war, dass sie die Last an seinem Körper spüren musste. Für dich, dachte er zu ihr. Und tat’s.


Der zweite Gewinner: Anschlag Von Malte Kröger Alle Möglichkeiten existierten zeitgleich. Ich hätte nach rechts laufen können, in die schmale Gasse, wo drei Frauen vor einem Schaufenster standen und in unmaskierter Panik kreischten, dessen berstendes Glas ihr Geschrei aber eine unendliche Sekunde lang übertönte. Ich hätte mich genauso gut nach links durchschlagen können, durch die Menge hindurcharbeiten, mit Fäusten und Ellenbogen die Ahnungslosen verdrängend, zurücklassend, irgendwohin. Wie ein Stein, ein äußerst schwerer, kalter Stein, der, in einen trüben Tümpel geworfen, Wellen im Dunkeln auslöst, so breitete sich das Ereignis am Rande des Platzes aus. Niemals im Leben hätte ich so viel geglaubt. Die Bank, die in der Nähe vor einer Fassade aus dem achtzehnten Jahrhundert stand, kannte ich. Dort hatte ich während der Sommermonate mit meinem Vater oft gesessen. Ein eigenes Taschengeld kannte ich noch nicht, so lange lag es schon zurück. Deshalb hat er mir an den Wochenenden das Eis gekauft, das mir am liebsten war. Es war eine Sorte Schokolade gewesen, die ich nie wieder gefunden hatte und die so schmeckte, wie die zwei Laternen in der Nähe und das vergoldete Dach des Eckhauses und das Lächeln meines Vaters, wenn er mir unsichtbare und unerklärliche Spuren von Eis in meinem Gesicht entdeckte. Diese Bank wurde nun immer wieder verdeckt von Menschen, die vorbei rannten, die etwas schrieen, die in verschiedene Richtungen zeigten und andere Menschen, die ihnen offenbar viel bedeuteten, mit sich zogen und dadurch selbst langsamer wurden, den Ankommenden alles schmerzlich entgegen rufend. Die Bank wurde zum viel zu langsam abgespielten Film; ein Bild folgte fremd und abgetrennt dem nächsten und irgendwie bewegte man sich kaum. Bis zu diesem Tage waren eindeutige Endpunkte unlogisch gewesen, widersinnig. Ich konnte mich nicht erinnern, etwas beendet zu haben in dem Sinne, es nie wieder zu tun. Ich konnte mich nicht erinnern, in etwas beendet worden zu sein. Vielleicht war das auch gar keine Option. Aber was will man von einem jungen Menschen erwarten? So wusste ich zumindest, auch wenn ich womöglich noch nicht merkte, dass ich es wusste, dass ich nicht mehr jung war, auf einen Schuss hin. Vor meinen Augen wurde das Pflaster verschwommen und grünlich und einen Moment lang zu einer Wiese in Wales, die zum Steigenlassen von Drachen ganz besonders geeignet war. Rote und braune und gelbe Bäume in der Umgebung hatten uns dabei zugesehen und auch wenn er immer schneller im Laufen war als ich, konnte ich gewiss sein, dass er für mich stehen bleiben würde, wenn ich wirklich nicht mehr konnte oder auch nur überzeugend genug so tat. Ich hätte diesen Ort gerne wieder besucht und obwohl wir nur einmal dort gewesen waren und obwohl die Kamera die zweite Hälfte der Reise über versagt hatte, war bei mir noch alles so wie es gewesen ist. Ich wunderte mich nicht mehr über die fernen und teilweise reich verzierten Giebel. Ich kannte sie. Ich hatte alles gekannt und geglaubt zu wissen. Ich war armselig. Was einmal mein Vater gewesen war, lag nicht weit entfernt vor meinen Füßen, eine Masse, die auf den Mittelpunkt der Erde blickte. Der bewegte Punkt in dieser Welt, der „Mein Vater“ hieß und den ich über alles liebte, war erstarrt. Ich hätte ihn nicht heben können. Ein Schmetterling, der seinen Kokon verlassen hatte, eine Haut, die ich nie vergessen könnte, deren Umriss aber schwinden würde, wie die Sandburgen, die wir in Italien gebaut hatten und die unter den Gezeiten immer weicher geworden sind. In diesen Tiefen grub ich vergeblich nach Sätzen, wie: „Wenn ich gehen muss, sollst du leben.“ Die Absurdität brannte hinter der Stirn. Was hatte sich vor diesen Augen abgespielt, wenn sie mich liebevoll, strafend oder manchmal fragend angesehen haben? Nie könnte ich dieses Mosaik mehr alleine vervollständigen, eine Hand konnte nie genügen, die zweite Stimme zu spielen. Vielleicht hätte ich etwas weitertragen sollen, einen Namen vielleicht oder was man sich wie in ungeschriebenen Briefen vorstellte. Mir wurde klar, dass dies Gedanken an eine Zukunft waren, die ich nicht hatte. Ich, der nicht zurück konnte, wurde vor das ewige Rätsel gestellt und löste es, indem ich es ungelöst ließ, denn dieses Rätsel offenbarte mir, dass ich kein Kind von der Art der Pfeile war, sondern der Anker. Als wäre Gott mir in den Mund gelegt. Meine Liebe blieb verschwiegen und wurde so unteilbare Wahrheit. Als ich in den Pistolenlauf blickte, stand das fest. Wenn jemand von einem Licht erzählt oder berichtet, Stimmen gehört zu haben, hat er zwar gelogen, weiß aber, welche Saite einen Menschen zum Klingen bringt. Ich dagegen war eins mit meiner Aussicht auf die Rückkehr in die Wirklichkeit. Morgen hatte seine Form für mich verloren. Alle Möglichkeiten existierten zeitgleich. Ich aber hatte mich schon entschieden.
Die dritte Gewinnerin: Burma ist in Afrika Von Uta Renken Auf dem Platz neben mir nimmt ein Mann Platz. Glaube ich. So genau weiß ich das nicht. Interessiert mich auch nicht. Meine Gedanken sind woanders und ich will mich nicht stören lassen. Genau in solchen Momenten passiert es, dass der Fremde, mit dem man bestimmt noch mehrere Stunden der Bahnfahrt verbringen muss, einen ungeheuren Kommunikationsbedarf hat. So auch heute. Er knistert in seiner „Bild“-Zeitung. Politischer Teil wohl. Wusste gar nicht, dass die „Bild“ auch über wichtige Themen schreibt. Er raschelt so laut, dass er mich beim Denken stört. Als ich immer noch nicht reagiere, legt er los. „Schrecklich, das mit Burma, oder? Dass sich die Afrikaner aber auch immer bekriegen müssen.“ Großartig. Das kann ja heiter werden. „Bild“ zum Ersten, Rascheln zum Zweiten, Geographiekenntnisse zum Dritten. Er hat verloren bevor er den Kampf aufnahm. Ausgerechnet mein persönliches Reizthema hat er getroffen. Kann er ja aber auch nicht wissen. In der E-Mail stand: „Die Mönche in Burma hätten nicht protestieren dürfen. Langfristige Gewaltprozesse kann man nur mit langfristigen, friedlichen, Untergrundmaßnahmen lösen. Demonstration führen nur zu unnötigen Toten.“ Die Nachricht meines Ex-Freundes war so unromantisch wie bestürzend. Seit einem Jahr rettet er die Welt, während ich versucht habe, uns zu retten. Er kämpft für sein Volk, ich für uns. Nun sind wir getrennt und ich habe aufgegeben, weil ich gegen ein Land verlor, das schon zu viel verloren hatte. Der „Bild“-Leser neben mir ist hartnäckig. „Das war ja schon in Tschetschenien schlimm, ich verstehe aber auch nicht, warum die mit Russland so viele Probleme hatten.“ Während er noch grübelt, frage ich mich, womit ich das eigentlich verdient habe? Warum ist der Zug so voll? Und warum lässt er mich nicht einfach nur in meinem Selbstmitleid suhlen? Dass ich diesem Mann die nächsten Jahre meines Liebeslebens widmen würde, hätte ich damals als ich ihm begegnete nicht gedacht. Schlaksig, groß, mit schelmenhaftem Lächeln, einer komischen Vorliebe für Computer und einer Hautfarbe, die sich keinem Kontinent zuordnen ließ. Wann immer wir später in einer Döner-Bude landeten, hielten ihn die Mitarbeiter für einen Landsmann. Er war Halb-Burmese, zur Bundeswehr und zum Philosophie-Studium nach Deutschland gekommen und hatte einen furchtbar deutschen Namen, den seine Mutter ihm gab, weil sie nur den einen deutschen Namen kannte, den Namen ihres Ehemannes, der vor der Geburt seines Sohnes starb. Das Geographie-Genie schlägt um. Jetzt ist er zufrieden. Hoffe ich. Nein. Natürlich nicht. Zu früh gefreut. „Die Merkel macht ja im Ausland gute Arbeit. Und dass sie jetzt diesen Lama getroffen hat, finde ich auch gut. Soll sie den Chinesen mal zeigen, wer der Herr im Haus ist. Oder eher die Frau.“ Er lacht selbstgefällig über seinen eigenen Witz. Höflich lache ich mit. Vielleicht auch eher aus Mitleid. Warum lache ich eigentlich? Er und ich lernten uns in einem Uni-Seminar kennen, wahrscheinlich der unromantischsten Situation, die man sich vorstellen kann. Doch schon nach wenigen Tagen war klar, dass wir mehr Zeit miteinander verbringen wollten und „sei es nur für eine Stunde, eine Minute, einen Kuss“, wie er mir sagte. Aus einem ersten Kuss, den wir beim Seminar tauschten, wurden Stunden, wurden Nächte, wurden Tage, wurden Wochenenden, wurde ein Zusammenleben. Wir liebten uns, stritten uns und waren verrückt nacheinander. Ich habe keinen Bock mehr nett zu sein. Ich will hier einfach nur in Ruhe emotional sterben. Je mehr sich unsere Körper an die Gefühlssensationen gewöhnten, desto mehr fanden unsere Seelen heraus, wie groß der Unterschied der Wesen war, die sie regierten. Meine urdeutsche Seite, die in einem niedersächsischen Kuhdorf groß geworden ist, fragte „was willst du als Philosoph eigentlich mal machen?“. Er erklärte mir, er wolle dem Land seiner Mutter helfen, sich gegen die Militär-Junta zu wehren. Dazu würde er nach seinem Abschluss nach Asien gehen, um als Entwicklungshelfer eine Zivilgesellschaft in Burma aufzubauen. Da ich mir nicht einmal unter dem Begriff „Zivilgesellschaft“ etwas vorstellen konnte, was in meinen Kampf um Beziehung, Ehe, Reihenendhaus, zwei Hunde, eine Katze und 1,4 Kinder mit deutschem Pass gepasst hätte, war ich ein wenig bestürzt. Der folgende „Kampf der Kulturen“ zerbröselte meine rosarote Welt und zerfleischte unsere Beziehung, da sein Studienabschluss und damit sein Weggang unmittelbar vor der Tür standen. Zwei Gedankenheere und zwei Lebenskonzepte standen sich unversöhnlich gegenüber: Mein „Lebenslänglich“ sah einfach kein Entwicklungsland als Aufenthaltsort vor. Sein „Lebenslänglich“ war und ist ein Kampf gegen Windmühlen. Meine Gedanken werden weiterhin gestört. Ich hasse Zug fahren. „Aber warum regen sich die Chinesen so auf, wenn die Angie ein Tier trifft? Ist das ein heiliges Lama?“ In diesem Moment überlege ich, ob der Mann mich verarschen möchte und schaue ihn an. Wahrscheinlich sollte ich auch etwas haben, worum ich kämpfe, ein Ideal, etwas, das meine 68er Eltern stolz auf mich machen würde oder zumindest den AStA ein wenig aufatmen ließe. Ich bin nicht stolz auf mich. Ich würde mich auch gerne für etwas einsetzen. Aber bislang hat der alltägliche Kampf ums Glücklichsein dafür gesorgt, dass ich mich kaum getraut habe, eine Dimension weiter oben einzusteigen. Neben mir sitzt ein attraktiver Mann. Wie kommt es nur, dass schöne Männer dumm sind? Ich will meine Ruhe. Innerlich schreie ich, dass ich meine Ruhe haben möchte und er die Schnauze halten soll. Äußerlich hält mein höfliches Lächeln eisern die Stellung. In dem Moment, in dem ich ihn anschaue, blitzt mich eine Reihe strahlender Zähne an. Im nächsten Augenblick zieht er ein Buch mit dem Titel „Öffentliches Recht. Sicherheits- und Internetrecht. Eine Einführung“ heraus und beginnt zu lesen. Ein Jurist? Seit einem Jahr ist er weg, wir getrennt. Mein Studienabschluss steht bevor, ich habe nach einem Urlaub in Kambodscha beschlossen, mich ein wenig näher mit dem Land zu beschäftigen. Von Deutschland aus. Wie weit ich damit komme, weiß ich nicht. Ich bin Single, erinnere ich mich selbst. Was habe ich also zu verlieren, wenn ich mich etwas mit diesem „Bild“-Objekt beschäftige? In Burma sterben täglich Menschen, andere werden verfolgt, bedroht, bekämpft, vergewaltigt. Schulbildung gibt es kaum, eine starke Elite unterdrückt die schwache Bevölkerung. Die Staatengemeinschaft tut nichts gegen die Junta oder für die Menschen. Mein Ex-Freund versucht ihnen zu helfen. Ich verstehe ihn, doch hatte ich zu langfristigen, friedlichen Untergrundmaßnahmen keine Zeit. Meinen letzten Kampf habe ich verloren. Als ich gerade ansetzen will, ihn zu fragen, was er denn von Ost-Timor hält, überrascht er mich: „Ich hab dich schon oft beim Uni-Sport gesehen und wollte dich schon lange mal zum Kaffee einladen, wusste aber nicht wie. Vielleicht habe ich ja jetzt deine Aufmerksamkeit?“ Er grinst. Grübchen bilden sich. Ein neuer Kampf scheint begonnen zu haben.

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