Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Dieser unvergessliche erste Tag nach den Ferien

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

1 Uhr Du wachst aus einem schwachen Schlaf auf und blickst auf die roten Ziffern der Nachttischuhr. „Jetzt sind die Sommerferien offiziell rum“ denkt es in dir. Schweres Atmen. Aber auch Vorfreude. 6.30 Uhr Aufwachen! Du hörst von der entfernten Straße den Berufsverkehr und denkst, der sei so, weil sich nun alle wieder auf den Weg in die Schule machen. Ist aber Quatsch. Du bist nur seit sechs Wochen nicht mehr um diese Zeit aufgestanden. Der Verkehr ist um die Zeit immer so. Dann Dehnen. Kalte Hände. Wie die Klassenschönheit wohl aussieht? Frühstück fällt wegen eines schummrigen Magens weitgehend aus. 7 Uhr Panik vorm Kleiderschrank. Du hast einen Anspruch an dich selbst, du willst, dass die anderen denken, dass du dich in diesen Ferien ganz ganz arg verändert hast. Du legst dir das neue T-Shirt raus und stellst dir die weißen Turnschuhe hin. Zum Glück warst du noch mal beim Friseur. Wer weiß: Vielleicht erkennen dich die anderen gar nicht mehr? 7.15 Uhr Ein Elternteil sagt: „Na, jetzt geht der Ernst des Lebens wieder los!“ 7.40 Uhr Der Schulweg geht bei dir zu Fuß. Andere stehen an den Bushaltestellen und Bahnhöfen und grüßen schüchtern all jene, die auch wieder kommen. Im ganzen Bundesland findet sich wieder die "Wir haben den gemeinsamen Schulweg"-Gesellschaft zusammen wie die Lämmer einer Herde. An der Ecke triffst du einen Freund aus der Nachbarschaft. Er hat ein weißes Hemd angezogen. „Nobel“, sagst du. Weißes Hemd! Außerdem duftet er nach Parfüm. Ihr geht gemeinsam, innerlich aufgebrezelt. Was von den anderen gehört? Wie es denen geht? Wo die im Urlaub waren? Du denkst an die Nordsee, wo du warst. Und befürchtest, dass die Klassenschönheit in Italien einen wunderbaren Italiener kennengelernt hat.

7.50 Uhr Oh oh, der Schulhof ist schon ganz schön voll. Vor dem Eingang sind Stellwände aufgestellt, auf denen die Klassenlisten angepinnt sind. Du lächelst, weil du viele Eltern siehst, die ihre Kleinen durch den Hof schieben. Die Kleinen! So groß wie ihre Ranzen. Du erkennst wahnsinnig viele Gesichter wieder, die man aber nicht grüßen kann. Es sind eben so Schulgesichter. Nicht wichtig, aber immer da, auf dem Weg vom einen Klassenzimmer zum anderen. Du grüßt ein paar dann doch flüchtig, ohne zurückgegrüßt zu werden. 7.55 Uhr Yes! Endlich Kontakt zur Bezugsgruppe hergestellt. Deine beiden besten Freundinnen oder Freunde stehen schon beisammen und freuen sich sehr, dich zu sehen. Nun seid ihr wieder zu dritt. Ihr umarmt euch sogar, auch wenn du eine von beiden erst vor zwei Tagen gesehen hast. Hier trifft man sich ja quasi in einer Mission wieder. In einem Team. 7.58 Uhr Auftritt die Jahrgangsschönheit. Die Ferien haben ihr mal wieder gut getan. 8.01 Uhr Verspäteter Gong, alle gehen in die Aula. Halbe Stunde Gottesdienst. Hinten besetzen die aus den höheren Jahrgangsstufen. Wobei: Drei von denen gehören angeblich jetzt in deine Klasse. Eine Reihe ist fast komplett frei, aber da sitzen nur die drei Nerds aus der Parallel. Du gehst weiter und entscheidest dich mit deiner Bezugsgruppe, am Rand an den Säulen stehen zu bleiben. Findet eh nicht jeder Platz. Wer ist der junge Typ da drüben? Ah. Lehrer. 8.10 Uhr Ein Bezugsgruppist deutet auf ein Zwillingspaar in einer der vorderen Reihen: „... jetzt auch in unserer Klasse. ... frisch hergezogen.“ 8.35 Uhr Warme Worte vom Religionslehrer. Dein Blick schweift. Plötzlich weißt du wieder, was in den Ferien anders war: Es roch nie nach Aula und Turnhalle! 8.50 Uhr Im Klassenzimmer: Mist. Hinten ist schon besetzt. Und wie teilt sich eure Bezugsgruppe auf? Was? Die beiden? Bitte? „Aber ich dachte wir sind Freunde!“ – „Es gibt leider keine Dreierbänke und wir können doch in den anderen Fächern tauschen.“ Du schluckst. Drei sind immer einer zuviel. Jetzt werden die Banknachbarn knapp, die Aktion der beiden Freunde hat dich aus dem Konzept gebracht. Eine der beiden Zwillinge aus der Kirche ist hier und sitzt alleine. Sie schaut dich an und lächelt. Du bleibst stehen. Und dann geht es nicht mehr anders. 8.53 Uhr „Hallo“ – „Hallo“. Ihr seid Banknachbarn. Vertragt euch. 9 Uhr Der Lehrer ist neu, hat aber eine schwungvolle Tafelanschrift. Du riechst jetzt schon wieder den kreidigen Schwamm. Es ist schon auch gut, dass wieder etwas los ist, denkst du. Du schaust nach rechts und erschrickst: Da sitzen zwei. Ein Sitzenbleiber und ein Mädchen aus deiner Klasse vom letzten Jahr. Sie hat schon ihr Bein über seinen Oberschenkel gelegt. Du denkst, ob du vielleicht zu spät dran bist, so nach und nach? Dann denkst du, dass du eines nicht willst: Eine Freundin in der Schule! Dann bist du aber doch eifersüchtig. 9.30 Uhr Gemaule, weil der Stundenplan rappelvoll wird. 10 Uhr Du schweifst im Kopf ab und überlegst, wo du in der Klasse hier stehst. Wer sind deine Freunde? Eigentlich nicht so viele. Oder doch? Sind nur alle so zurückhaltend und schüchtern heute? Sind die Signale, die man am ersten Tag von den anderen bekommt ernst zu nehmen? Gleichzeitig sind alle so vorsichtig. Wahrscheinlich geht es darum, es sich nicht gleich mit jemandem zu verderben. Das Jahr kann lang werden. 10.15 Uhr Absenzenheftführer. Klassensprecher. Tafeldienst. Wandertag, wohin? 11 Uhr Gong und erstmal Schluss. Du bist erleichtert. Draußen im Schulhof wird vieles leichter. Die Bezugsgruppisten entschuldigen sich fürs schnelle Zusammensetzen. Du winkst ab und sagst, dass man ja nicht immer nur zusammenglucken könne. Du sagst aus der Ferne Tschüss zu deiner Banknachbarin. Das neue Jahr hat angefangen. Die Welt dreht sich wieder.

Text: yvonne-gamringer - Foto: Judywie/photocase.com

  • teilen
  • schließen