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Ein Land fällt ins Koma - Das Tel Aviv-Tagebuch

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Mittwoch, 4. Januar Die Krise beginnt mit einer SMS. „Sharon im Koma“. Ein Freund hat sie bekommen. Um uns herum weiss es wohl noch niemand. An der Bar wird weiter getrunken und geflirtet, der DJ spielt „Das Model“ von Kraftwerk - ein normaler Mittwochabend in der Tel Aviver Bar „Helena“. Für mich ist die Party vorbei. Bin eh' nur wegen eines wunderschönen Mädchens hier. Zwei Stunden später sitze ich mit einem Freund auf einer weißen Ledercouch, wir sind beide ziemlich down - abwechselnd wegen Sharon und der Liebe. Die Bar hat sich schnell geleert. Dann schenkt mir die Wunderschöne doch noch eine Viertelstunde, speichert meine Nummer in ihrem Handy, verwehrt einen Kuss. Ich gehe heim. Alleine. Fernseher an. Vor dem Krankenhaus das Reporter-Rudel. Arik ist nicht tot, aber fast. Die Moderatorin im Studio hat wirklich Tränen in den Augen. Donnerstag, 5. Januar Durch den nassen Tel Aviver Winter bewegt man sich in Mini-Bussen. Die fahren die Hauptadern der Stadt entlang und halten auf Handzeichen für einen an. Für 5 Shekel (80 Cent) sitzt man in bequemen Sitzen und schaut aus dem Fenster. Das Radio ist aufgedreht, ein Arzt sagt: Sharon muss nochmal am Gehirn operiert werden. Es scheint dem Ende zuzugehen, keiner im Bus sagt etwas. Für einen Moment fühle ich mich in meiner Angst mit den anderen Fahrgästen vereint. Das Stammesoberhaupt liegt im Sterben. Wird man ihn neben Rabin beerdigen? Ich verpasse meine Haltestelle. Drei Tage hintereinander wache ich mit dem selben Gedanken auf: Lebt Arik noch? In den Fernsehstudios sitzen jetzt Neurologen. Ihr Volks-Crash-Kurs geht über die linke und rechte Hirnhälfte, Motorikzentren, Gedankenströme, CT-Scans. Ich verstehe nicht viel. Ich muss jetzt oft an meine verstorbenen Großväter denken. Männer, die Verfolgung und Krieg erlebt haben. Und danach ein neues Leben aufgebaut haben. Für ihre Familie gelebt haben, für ihr Volk, nicht für sich selbst. Solche Männer gehen nie in Rente. Die machen immer weiter. Bis es nicht mehr geht. Montag, 09. Januar Arik bewegt die linke Hand. Die Narkosemittel werden reduziert und jetzt wird ihm seine Lieblingsmusik vorgespielt: Mozart. Dazu bringt man ihm Shwarma ans Bett. Das ist Truthahnfleisch, das so wie Gyros oder Döner Kebab am Spieß gedreht wird. Der saftige Fleischgeruch soll Arik reanimieren. Gute Idee. Mein jüngerer Bruder sagt, wenn es ihm mal so gehen sollte wie Arik, soll ich ihm auch Shwarma bringen. Wir überlegen, woher sie das Fleisch geholt haben. Und sind uns einig: Nur das Shwarma von Shemesh in Ramat-Gan kann Menschenleben retten. Dienstag, 10. Januar Mein Steuerberater sagt, Arik bleibe wohl ein Pflegefall. Bis zu diesem Satz haben wir 30 Minuten über andere Dinge geredet. Er bewegt die Maus über eine israelische News-Seite. An Arik vorbei klickt er auf die Meldung: „Drei Kinder bei Verkehrsunfall in Beer-Scheva getötet“. Das ist doch die eigentliche Tragödie in diesem Land, sagt er. Freitag, 13. Januar Habe seit zwei Tagen nicht mehr über Arik gesprochen. Die israelischen Parteien zerfleischen sich im Wahlkampf, vor dem Krankenhaus sind kaum noch Journalisten, weil es regnet, und die Basketballer von Maccabi Tel Aviv haben in Zagreb mit 30 Punkten Abstand gewonnen. Montag, 16. Januar Heute ist Familientag. Im Fernsehen läuft Mrs Doubtfire und im Kino sehe ich einsame GIs in „Jarhead“. Auf dem Weg dahin, kommt mir die gute Zeitung „Haaretz“ in die Hand. Der Leitartikler schreibt, jetzt muss Schluss sein mit dem öffentlichen Gerede um Scharons Krankheitszustand. Wie jeder Mensch habe er ein Recht auf Privatsphäre. Und wann welches Organ auf welche Wiederbelebungsversuche reagiert, geht nur seine Familie etwas an. Da ist was dran, aber natürlich interessiert es uns alle, dass Arik endlich die Augen geöffnet hat. Ganz kurz nur. Als er die Stimme seines Enkels gehört hat. Dienstag, 17.Januar Von Arik lernen! 1. Bleib in der Nähe Deiner Familie. 2. Finde Dinge, die all Deine Sinne betören. 3. Setz Dich in die Wüste. 4. Mach Deine Schafe zu den Fruchtbarsten des Landes. 5. Schau nicht weg, wenn man nicht wegschauen darf. 6. Geh trotzdem immer weiter. 7. Um Gesetze muss man Slalom fahren. 8. Alles zu seiner Zeit. 9. Wer Dich fürchtet, achtet Dich. 10. Und wenn Du merkst, die Kraft geht aus? Gib die Staffel weiter.

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