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Ein Leben im Schnelldurchlauf

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Die Tests dauerten nicht länger als eine Stunde. Vor mir lag ein Haufen Papier, und die beiden Männer, die mich an „Dick und Doof“ erinnerten, sagten, ich solle Mäuse, Katzen und Musiknoten nachzeichnen. Anschließend sollte ich etwas erzählen, ich erinnere mich nicht mehr, was das war, ich glaube, es war auch nicht wichtig. Schließlich forderten sie mich auf, mich frei im Zimmer zu bewegen. Dann fällten sie ihre Entscheidung: Ich, fünf Jahre alt, sollte ab sofort nicht mehr in die erste, sondern in die dritte Klasse gehen. Ich bin in Südfrankreich aufgewachsen, in einem kleinen Dorf. Ich galt als Sonderling: Ich trug keine Jeans und Turnschuhe wie die anderen Kinder, sondern Blumenröcke und Lederstiefeletten, konnte kein Rad schlagen und hatte an kollektiven Sportarten gar keinen Spaß. Dass ich nun noch eine Klasse übersprang, erstaunte meine Mitschüler nicht weiter – für komisch hielten sie mich ohnehin. Dass ich wie ein Einzelkind aufgewachsen war, half mir im Umgang mit meinem Alter auch nicht wirklich. Meine Mutter und mein Vater haben schon jeweils zwei Söhne und zwei Töchter aus ihren ersten Ehen, aber diese vier Halbgeschwister waren schon erwachsen, so dass ich mit ihnen nur wenig zu tun hatte. Ich war es also von Haus aus gewohnt, als Nesthäkchen Gespräche mitzubekommen, die ich gar nicht verstand.

Die Probleme fingen an, als ich mit neun auf das Gymnasium wechselte. Nach den ersten zwei Tagen klebte an meiner Stirn das Label „die Jüngste“. Zum ersten Mal bedeutete „jünger sein“ auch „ausgeschlossen sein“. Der Abstand zwischen mir und meinen Mitschülern wuchs zu einem riesigen Graben. Bei ihnen spielten die Hormone verrückt, um mich herum brach die Pubertät ein, die für mich ein rätselhaftes Reich blieb. In der Pause auf dem Schulhof stand ich ratlos und stumm vor Verzweiflung neben meinen reiferen Freundinnen, während sie ausführlich über BHs plauderten. Und während alle „Hit me Baby one more time“ sangen und choreographierten, konnte ich nur meine Klavierstücke auswendig spielen. Abends kam ich manchmal ganz aufgeregt nach Hause und wartete ungeduldig auf eine Gelegenheit, irgendein neues vulgäres Wort im Wörterbuch suchen zu können. An mir gingen wegen dieses Fachwortschatzmangels alle Witze vorbei: „D, D-I, D-I-L-, Dild, Dilettantisch, ...“ Das Wörterbuch war meistens keine Hilfe. Die Kluft zwischen meinen Mitschülern und mir schien unüberbrückbar geworden zu sein. Ich kam mir wie eine Ausländerin vor, die die Landessprache nicht versteht. Damit mein Unwissen nicht auffiel, hatte ich ein heuchlerisches Lächeln erfunden, das ich zu jeder Gelegenheit aufsetzte, wenn ich gerade nichts kapierte. Manchmal erfand ich Geschichten, von denen ich glaubte, sie seien so, wie sie Ältere sich erzählten. Aber es half alles nichts: Ich gehörte nie richtig ganz dazu. Dementsprechend wenig konnte ich mit den Jungs aus meiner Klasse anfangen: Sie waren zwar zwei Jahre älter, aber ich hielt sie für Dummköpfe. Flirts, Schiebertanzen und erste Küsse interessierten mich nicht. Sie langweilten mich mit ihren komisch brüchigen Stimmen. Während den Pausen, in denen sich Jungs und Mädchen vermischten, ging es hauptsächlich um die nächste SMS-Abstimmung für die Kandidaten der ersten französischen Reality-Show "Loft-Story". Ich aber durfte weder fernsehen noch hatte ich ein Handy. Und so zog sich durch meine ersten Gymnasiumsjahre das komische Gefühl, immer hinterher zu sein. Als ich aber etwa zwölf Jahre alt war, entwickelte ich eine Strategie: Eigentlich wäre es sinnvoll gewesen, einfach mit gleichaltrigen Mitschülern aus niedrigeren Klassen rumzuhängen. Ich aber tat genau das Gegenteil: Ich sah mich nach einem älteren Freundeskreis um. Es waren für meinen Geschmack sehr offene Leute, viele von ihnen engagierten sich politisch und alle waren fest entschlossen, nach dem Abitur die kleine Provinzstadt zu verlassen. Wenn ich schon die Jüngste war und damit leben musste, dann wollte ich daraus Vorteile ziehen. Mit zwölf zog ich an meiner ersten Zigarette. Als ich 13 war, nahmen mich meine 18-jährigen Freundinnen mit auf Partys in die Stadt und in die Disco. Ich forderte mich heraus, mehr als all meine Mitschüler zu erleben, und vor allem früher. Zwischen 13 und 16 erlebte ich all das, was zu einer Pubertät gehört, im Schnelldurchlauf. Als ich mit 16 das Abi in der Tasche hatte, wäre ich wieder gerne älter gewesen. Ich fühlte mich viel zu jung, um von zu Hause auszuziehen. Trotzdem ging ich nach Paris. Zum ersten Mal war es egal, wie alt ich war. Im Studium vermischen sich so viele unterschiedliche Leute – die in der Schule so starren Altersgrenzen werden weich und irgendwann unwichtig. Plötzlich fragte niemand mehr nach meinem Alter, weder Professoren, Mitstudenten oder Arbeitskollegen. Es war egal geworden. In jenem Sommer lernte ich einen Kollegen kennen, der mit 26 gerade eine Ausbildung macht. Er fragte mich, was ich für ein Studium gemacht hätte. Ich sagte, ich hätte gerade mit 21 einen Master an der Uni gemacht. Er fragte zurück: "Hast du sonst noch was im Leben gemacht?" Ich habe nichts geantwortet und habe ihn leise verachtet. Ich hätte gerne gesagt, dass ich noch ein neues Studium anfangen könnte und dabei immer noch jünger als er wäre, aber ich blieb höflich. Diese Frage machte mir etwas bewusstwerden: Jüngersein hieß mit einem Mal auch, mehr Möglichkeiten zu haben. Ob Dick und Doof damals die richtige Entscheidung getroffen hatten, kann ich heute schwer beurteilen. Hätten meine Eltern sich weigern sollen, mich eine Klasse überspringen zu lassen? Vielleicht hätte ich mich dann in der Schule gelangweilt. Hätte ich dann zwischen 12 und 14 weniger Schwierigkeiten gehabt? Wahrscheinlich. Aber wer ist in diesem Alter schon glücklich? Heute bin ich noch immer meist die Jüngste in einer Gruppe. Aber es stört mich nicht mehr. Ich habe es mir mit dem Alter angewöhnt. Wenn man jung ist, will jeder älter sein. Aber sobald man ein gewisses Alter überschritten hat, kippt das. Früher oder später will jeder jünger sein.

Text: alice-lortholary - Foto: AllzweckJack/photocase.com

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