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Da sind sie: Die Mitglieder der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Foto: dpa


Das wollen wir doch mal sehen, dachte ich mir, als ein Mitglied der Berliner Piratenfraktion öffentlich ankündigte, dass die Wahl des Fraktionsvorsitzenden hinter geschlossenen Türen stattfinden soll.

Also schnell ins Internet. Einloggen in die Partei-Abstimmungssoftware "Liquid Feedback" und hier eine neue Initiative erstellten Themennummer: 563. Thementitel "Die Fraktion der Piratenpartei Berlin soll öffentlichen tagen". Verfahren: "Eilantrag". Antragstext und eine kurze Begründung - "fertig" klicken.   

Nächster Schritt: Über Twitter, Facebook und E-Mail-Verteiler muss ich nun Mehrheiten organisieren. "Wir machen jetzt das mit der innerparteilichen Demokratie", schreibe ich und verlinke meine Antrag. Innerhalb von Minuten sammeln sich die Unterstützer unter dem Antrag. Andere Parteimitglieder steigen nun ein, und bewerben nun ebenfalls den Antrag in ihrem Freundeskreis. Nach wenigen Stunden ist die erste Zehnprozenthürde genommen und der Antrag kommt in die "Diskussionsphase" - im Eilverfahren.

Nun schreiben einige Piraten Anregungen, wie die Formulierung des Textes verbessert werden soll. Es gibt auch einen Alternativantrag, der eine andere Richtung einschlägt. Inzwischen habe ich über die Software eine Piratin gefunden, die den Antrag mit mir zusammen weiter entwickelt und die Anregungen abarbeitet. Wir machen Kompromisse und entschärfen einige Formulierungen. Nach der Debatte kommt es zur Abstimmung. 59 Parteimitglieder unterstützten die Initiative, fünf stimmen mit "nein" und zehn enthalten sich - ein eindeutiges Ergebnis. Das Signal kommt an. Auch die Fraktionssitzung mit der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden wird öffentlich durchgeführt.
Für die Berliner Presse eine Sensation.  

 "Stellen Sie sich vor, Sie würden gefragt", prangt auf den Wahlplakaten der Piratenpartei, oder auch "Wir sind die mit den Fragen - ihr seit die mit den Antworten". Mitbestimmung als Wahlversprechern. Im Handelsblatt erklärt ein Bundesvorstandsmitglied, dass seine Meinung nur eine unter 15.000  sei und keinerlei Aussagekraft habe. Die politische Geschäftsführerin wiederholt in der ersten Bundespressekonferenz gebetsmühlenartig "Bis die Partei in Liquid Feedback über diese Frage abgestimmt hat, kann ich dazu keine Aussage machen."

"Liquid Democracy" - zu deutsch - "Flüssige Demokratie" ist der neue Gesellschaftsentwurf, den die junge Partei vorschlägt. Es soll eine Mischung aus direkter und repräsentativer Demokratie sein. Entwickelt wurde das neue Demokratiekonzept um die Jahrtausendwende in amerikanischen Foren und Wikis. Im Kern geht es um mehr Mitbestimmung für die Bürger.

Die Piraten wollen nicht mehr nur alle vier Jahre wählen und dabei alle Macht und Verantwortung an ein Parlament aus 600 Menschen, eine Regierung aus 15 Ministern oder bestimmte Parteivorstände übertragen. Schnelle Internet-Kommunikation und die Möglichkeit dezentral zusammen zuarbeiten, erfordere ein neues Level an Mitbestimmung. Im Artikel eins des Grundsatzprogramm der Piraten heißt es pathetisch: "Die digitale Revolution ermöglicht der Menschheit eine Weiterentwicklung der Demokratie, bei der [...] die Mitbestimmungsmöglichkeiten jedes Einzelnen gestärkt werden können. Die Piratenpartei sieht es als Ihre Aufgabe an, die Anpassung der gelebten Demokratie in der Bundesrepublik an die neuen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zu begleiten und zu gestalten."  

Und so fing die Partei 2009 an, Liquid Democracy als eine Art Testlauf für die Gesellschaft innerhalb der eigenen Partei zu öffnen. Doch was unterscheidet Liquid Democracy von einem einfachen Voting oder dem Anklicken des Like-Buttons?

Das wichtigste Element der "flüssigen Demokratie" sind ihre Delegationen. Die Mitglieder können ihre Stimme dabei an jedes andere Parteimitglied im System weitergeben - etwa einem Vertrautem am Stammtisch, dem Kreisvorsitzenden oder solche Mitglieder, die in gewissen Bereichen eine gewisse Expertise aufweisen. Anders als bei Vorstands- oder Bundestagswahlen ist diese Delegation nicht für einen festen Zeitraum festgelegt, sondern kann jederzeit zurückgenommen und neu vergeben werden. Handeln die Mächtigen korrupt, können die Mitglieder ihnen schnell wieder ihre Macht entziehen.  

Aber die Idee hat noch einen Clou: Die Delegationsempfänger können ihre Stimme weiter gegeben - etwa wenn sie der Meinung sind, dass sie eine Frage selbst nicht entscheiden können. So entstehen persönliche Vertrauensketten, die man bereits aus anderen Schwarmintelligenz-Systemen wie etwa Twitter kennt. Die meiste Stimmmacht sammeln die Mitglieder, die von der Mehrheit der Partei zum Zeitpunkt der Abstimmung als kompetent oder gerecht eingeschätzt werden. Da jedes Mitglied bei jeder Abstimmung aber auch die Möglichkeit hat, selbst abzustimmen, entstehen jedes mal ganz neue Mehrheiten. Alles bleibt "im Fluss".    

Damit löst die Liquid Democracy die starren Hierarchien der repräsentativen Demokratie auf, ohne dass sich die Bürger unter der Last einer endlosen Abstimmungsorgie einer direkten Demokratie zu ertrinken drohen.  Wer jedoch möchte, kann sich einbringen – und dies ganz diskriminierungsfrei. Denn eine Teilnahme an Stammtischen oder dem üblichen Parteiklügel ist nicht zwingend nötig. Alleinerziehende, Ältere oder Schüchterne sind die größten Profiteure, da sich alles in Liquid Feedback nur um konkrete Sachanträge dreht.   Der erste Feldversuch innerhalb der Piratenpartei verlief bisher sehr erfolgreich: Zu den Erfolgen der Software gehört das gemeinsam verfasste Berliner Wahlprogramm und die Antragsentwicklung für den Bundesparteitag in Chemnitz. Effizient und ohne großes Geschrei wurden in der Software kompromissfähige Texte für bis dahin umstrittene Themen wie Atomausstieg und Bedingungsloses Grundeinkommen gefunden. Initiativen die durch Liquid Feedback liefen, wurden beim Bundesparteitag im Schnitt doppelt so oft angenommen, wie direkt gestellte Initiativen.

An einer großen Umfrage der Studie für meine Magisterarbeit beteiligten sich 3500 der damals rund 12.000  Mitglieder. Dabei stellte sich heraus, dass eine große Mehrheit der Mitglieder sehr zufrieden mit der innerparteilichen Demokratie der Piraten ist. Die meiste Kritik an Liquid Feedback wurde am Layout und der Benutzerunfreundlichkeit der Software geäußert. Ein Update ist jedoch bereits in Planung.  

Und dies wird Zeit - denn der Wunsch der Parteibasis nach einer effektiven Mitbestimmung ist riesig - auch das zeigten die Umfragen. Liquid Feedback könnte somit zum wichtigsten Werkzeug und gleichzeitig dem größten Abgrenzungsmerkmal der Partei werden. Noch gelten die Ergebnisse der rund 2000 Initiativen jedoch nicht als verbindlich, sondern nur als Meinungsbild. Die Offline-Parteitage, die bisher die Online-Ergebnisse absegnen müssen, entwickeln sich zum anachronistischen Flaschenhals im System. Wollen die Piraten ihre Software aus dem Beta-Status herausholen, muss dieser gordische Knoten noch zerschlagen werden.     

Sebastian Jabbusch, 28, ist Mitglied der Piratenpartei. Er hat seine Magisterarbeit über Liquid Democracy geschrieben.

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