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Fluthilfe aus dem Netz

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Auf Facebook haben sich seit dem vergangenen Wochenende unter Urlaubs-, Katzen- und Kuchenfotos plötzlich ungewohnt andere Bilder gemischt. Fotos von Cafétischen und Waschmaschinen, die in braunem Wasser schwimmen. Von vollgelaufenen Kellern und Häusern, bei denen der Schlamm bis zum Fenster reicht. Von Herdplatten und Spülbecken, auf denen der Dreck eine bräunliche Kruste hinterlassen hat.  

Freiwillige Helfer schaufeln in Passau Schlamm aus einem Vorgarten.

In den vergangenen Tagen konnte man nicht nur in den Nachrichten und Zeitungen live miterleben, wie Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gegen das Hochwasser kämpfen, sondern auch auf Facebook und Twitter. Auf einmal sind die Betroffenen nicht "die Anderen", sondern Freunde, ehemalige Kommilitonen, Verwandte. Der Impuls zu helfen, ist noch stärker. Gleichzeitig wissen die meisten einfach nicht, wie. Eine Mischung aus Unsicherheit und der Angst, im Weg zu stehen, führt dazu, dass man am Ende nichts tut.  

Karoline Oberländer, 22, studiert European Studies an der Uni Passau und ist Sprecherin der Fachschaftsvertretung der Philosophischen Fakultät. Als sie am Wochenende durch die Stadt ging, traute sie sich lange nicht zu fragen, ob sie helfen kann. "Als ich es doch tat, bekam ich als Antwort: 'Naja, wenn du eine Schaufel hast.' Die hatte ich natürlich nicht. So ist es oft, die Leute wollen helfen, aber es gibt keinen, der das koordiniert oder sich um das Equipment kümmert."  

Am Montag erfuhr Karoline, dass ihre Uni überflutet und bis auf weiteres geschlossen ist. Noch am selben Abend überlegte sie mit drei anderen Fachschaftssprechern, was sie tun können. Um ihre Kommilitonen zu erreichen, setzten sie ein Online-Formular auf und fingen eine Helferliste an, die sie der Stadt- und Univerwaltung zur Verfügung stellen wollten. An die tausend Leute trugen sich noch am selben Abend ein. Die Stadt war aber noch mit dem Einteilen der offiziellen Einsatzkräfte beschäftigt und konnte sich noch gar nicht um die vielen Freiwilligen kümmern. "Plötzlich waren wir die offizielle Einsatzzentrale für zivile Helfer", sagt Karoline. Als sie merkten, wie viele Mails und Anrufe sie bekommen, erstellten sie eine Facebook-Seite. Viele Nachrichten können sie so gesammelt beantworten. Anlaufstellen wie das Rote Kreuz oder das Bürgerbüro sind mit den vielen Anfragen überlastet.  

Ihr Fachschaftsbüro im Nikolakloster in der Uni haben sie in eine Helferzentrale umfunktioniert. Von acht Uhr morgens bis halb zwölf Uhr nachts sitzen sie vor ihren Computern, beantworten Facebook-Nachrichten und notieren am Telefon, wo die Einsatzkräfte Helfer und Privatleute zu Hause Hilfe brauchen, oder geben Auskunft, wenn Leute fragen, wo sie helfen oder Spenden abgeben können. "Vor unserem Büro stehen ganz viele Helfer, die schicken wir dann los und wenn noch Bedarf ist, posten wir das noch auf Facebook", sagt Karoline. Dort steht dann so etwas wie: "Wir bräuchten ungefähr zehn Helfer in der Halserstraße!", "Wir brauchen DRINGEND STIRN- UND/ODER TASCHENLAMPEN, um lichtlose Keller ausräumen zu können" oder "Wer ein Auto in der Innstadt zur Verfügung hat: Bitte am KaffeeWerk melden. Es müssten Helfer in die äußeren Regionen der Innstadt gefahren werden!"  

Mindestens 2.000 Helfer sind gerade in Passau unterwegs. Sie arbeiten in Schichten, weil viele sonst nicht aufhören zu arbeiten. "Wir schicken Essenspakete raus, damit sie eine Pause machen und merken, wie kaputt sie sind", sagt Karoline. Vor Ort sichern Feuerwehr und THW zuerst die Gebiete und kontrollieren, ob zum Beispiel Einsturzgefahr besteht oder Gas ausläuft. Für zivile Helfer wäre das zu gefährlich. Wenn das Gebiet gesichert ist, schaufeln die freiwilligen Helfer Schlamm aus Vorgärten und Kellern oder bilden Eimerketten, manchmal auch zusammen mit den offiziellen Einsatzkräften von der Feuerwehr, dem THW (Technischen Hilfswerk) und der Bundeswehr zusammen. "Die fragen sogar direkt nach unseren Helfern", sagt Karoline, "laut dem Bundeswehrchef schaffen wir mehr als die Bundeswehr."  

In der Zentrale werden im Minutentakt Lebensmittel, Schaufeln, Eimer und Gummistiefel angeliefert. "Wir haben auf Facebook gepostet, dass wir Pflaster brauchen, nach anderthalb Stunden mussten wir es wieder runternehmen, weil wir schon vier Kisten voller Pflaster hatten", sagt Karoline.

Ihre Facebook-Seite hat bereits knapp 12.000 Likes (Stand: 7.6.2013). Die Plattform ist eine Anlaufstelle für alle, die etwas tun wollen. Die Cerealienmanufaktur MyMüsli stellt den Helfern kostenlos Müsli zur Verfügung. Lehramtsstudenten bieten an, Kinder zu betreuen. Gleichzeitig ist die Seite ein Ratgeber: Dort steht, wie man die Soforthilfe von 1.500 Euro beantragt, ebenso wie eine Bitte, dass die Helfer auf Sonnenschutz achten und sich bei Verletzungen wegen der Gefahr einer Blutvergiftung verarzten lassen.  

Das alles erinnert an den Hurricane "Sandy" in den USA. Damals, im November 2012 , organisierten sich Helfer im Internet und Privatpersonen öffneten ihre Wohnungen, damit Menschen ohne Strom ihre Handys aufladen konnten. In Deutschland ist es das erste Mal, dass sich bei einer Flutkatastrophe die Menschen im Netz organisieren. Beim "Jahrhunderthochwasser" 2002 gab es weder Facebook noch Twitter, heute sind die sozialen Netzwerke umso wertvoller.  

In vielen Städten, die vom Hochwasser betroffen sind, wird die Passauer Idee kopiert. Wenn die um Rat bitten, verschickt Karoline eine Standardmail, in der sie erklärt, wie sie angefangen haben und die Einsatzkräfte organisieren. "Deggendorf räumt auf" und "Dresden räumt auf" zum Beispiel haben tausende Likes und Gruppen wie "Hochwasserhilfe Passau" oder "Hochwasserhilfe Straubing", die Spenden sammelt, hunderte Mitglieder. Von jeder Stadt, die vom Hochwasser betroffen ist, gibt es mehrere solcher Facebook-Seiten und -Gruppen. Auch die Städte und lokalen Medien nutzen ihre Facebook-Auftritte, um zu informieren und Helfer zu koordinieren. Die Solidarität geht sogar über Stadt- und Landkreisgrenzen hinaus: Die Gruppe "Hochwasser 2013 – München hilft Passau und Deggendorf" organisiert Spenden und gemeinsame Fahrten zur Hilfe vor Ort.  

Wie immer im Internet regt sich aber auch Kritik. Dass die Helfer über Facebook ein Event aus der Fluthilfe machen, zum Beispiel. Dass sich die Freiwilligen nur selbst darstellen wollen. Oder dass sich die Helfer nur gegenseitig im Weg stehen. Auf der Passauer Facebook-Seite deuten mehrere Kommentare darauf hin, dass Leute heimgeschickt worden sind. Wer jedoch immer wieder auf die Facebook-Seite schaut, liest, wo bereits genug Helfer sind.

Um zu verstehen, dass "Passau räumt auf" eine gute Sache ist, muss man sich nur ansehen, was seine Helfer schon geschafft haben. Die Innstegaula der Uni, die 1,50 Meter überschwemmt war, ist ab Montag wieder offen. Hätten die freiwilligen Helfer den Schlamm nicht herausgeholt, hätte man das Gebäude abreißen müssen. Man merkt es auch an den Reaktionen von Betroffenen. "Möchte auf diesem Weg nochmals ein großes Dankeschön allen Studenten und Helfern zu kommen lassen, die uns (...) geholfen haben, unseren Keller (u.a. mit den hunderten von Aktenordnern) auszuräumen", schreibt ein Flutopfer auf der Passauer Facebook-Seite. Ein anderer schrieb: "Ein herzlicher Dank ergeht an alle Helfer, die heute, gestern und vorgestern bei uns mitgeschuftet haben."  

Ohne die Organisation auf Facebook wäre das Chaos so groß, dass Menschen, die gerne helfen würden, das wohl einfach nicht könnten. Es wäre auch viel zu gefährlich. Das THW warnt immer wieder davor, unkoordiniert in überflutete Gebiete zu gehen.  

In Passau kommt die Aktion von Karoline und ihren Kommilitonen gut an, und das nicht nur bei den Menschen, denen sie persönlich geholfen haben: "Wir Studenten hatten keinen guten Ruf bei der Bevölkerung, auch, weil die Uni noch sehr jung ist", sagt sie, "aber heute war ein Leserbrief in der Zeitung, in dem sich eine Passauerin dafür entschuldigt, dass sie immer über uns gemeckert hat. Auf Facebook stand in einem Kommentar: 'Die Studenten sind ein Schatz für Passau'.  

Am Montag soll der Lehrbetrieb an der Uni wieder beginnen. Im Inn ist das Wasser schon zurückgegangen, die Donau aber wohl erst Mitte der kommenden Woche. Dann fangen die Freiwilligen von "Passau räumt auf" an, die Häuser an der Donau zu versorgen. Und helfen weiter, dass das "soziale Netzwerk" Facebook seinen Titel endlich auch mal verdient. 


Text: kathrin-hollmer - Foto: dpa

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