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Frisch lackiert

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Noch vor zwei Jahren hätten sich vermutlich die meisten Frauen geweigert, ihre Fingernägel mit Leoparden-Print oder 3D-Effekten zu verzieren. Zum einen aus ästhetischen Gründen, zum anderen auch, weil sie nicht mit Damen aus dem Rotlichtviertels assoziiert werden wollten. Aber die Zeiten, in denen sogenannte „Nail Art“ ausschließlich auf den WAGs-Rängen der Fußballstadien und in Solarien ausgeführt wurden, sind endgültig vorbei. Normale Frauen mit echten Berufen twittern und posten Fotos von ihren neuen Nagel-Design, die Drogerienmarkt-Regale sind voll mit Lacken in den bizarrsten Farben und auf Websites wie Hello Giggles, die bislang nicht im Verdacht der totalen Oberflächlichkeit standen, gibt es eigene Bereiche, in denen User ihre neuesten Nagellack-Extravaganzen veröffentlichen.



Was ist da passiert?
Fest steht: Nagellack hat sich im vergangenen Jahr so gut verkauft, wie kein anderer Kosmetik-Artikel sonst: 2011 stiegen die Verkäufe in den USA um 67 Prozent, im ersten Halbjahr 2012 sogar um 70 Prozent. Und das hat auch etwas mit der Rezession zu tun, in der wir uns momentan befinden. Wer Geld sparen muss, sich die neuesten Trends nicht mehr einfach so leisten kann und wessen Aussichten generell eher mau aussehen, der freut sich über ein erschwingliches Etwas, das binnen weniger Minuten gute Laune macht, das Outfit verändert und auch schnell wieder zu entfernen ist.  
Bis dato war dieser Rezessions-Gradmesser immer der sogenannte Lippenstift-Index. Ging es mit der Wirtschaft abwärts, zogen die Lippenstift-Verkäufe an. Auch hier war der Grund derselbe: sobald es Menschen wirtschaftlich schlechter geht, verzichten sie auf größere Anschaffungen und wenn sie sich dann doch etwas leisten, dann sind es erschwingliche Dinge, wie ein Lippenstift. Es liegt also an der Wirtschaft, dass wir uns wieder mehr Kleinkram kaufen.

Warum aber auf einmal Nagellack und nicht mehr Lippenstift?  
Ein sehr banaler Grund dafür dürfte sein: Es gibt mehr Auswahl, also wird mehr verkauft. Bis vor wenigen Jahren gab es in Drogeriemärkten zwar auch Dutzende Farbnuancen zu kaufen, allerdings bewegten die sich fast alle in Rot- und Rosatönen oder sie waren durchsichtig. Seit der ersten Trendaufwallung im vergangenen Jahr, in der Schlamm- und Nude-Töne auf einmal zu den Farben der Saison ausgerufen wurden, sind nun alle Dämme gebrochen: Wer möchte, kann sich seine Nägel täglich neu in einem anderen Schock-Ton färben: Von Neon-Gelb über Braungrün bis zu Meer-türkis. 

 Und der Trend lässt sich sehr leicht adaptieren: Auch Frauen, die normalerweise nicht dazu neigen, jede Modeerscheinung aus den Blogs sofort zu kopieren, tragen auf einmal wilde Farben auf ihren Nägeln. Und beschränken sich auch nicht auf eine, sondern färben bisweilen jeden Nagel in einer anderen Nuance, kleben Glitzersteinchen auf oder lassen sich von sogenannten Nagedesignern ganze Landschaften auf die Nägel malen. Je weiter wir uns vom Gesicht entfernen, desto abenteuerlustiger und experimentierfreudiger werden wir. Wer vielleicht nicht unbedingt Neon-Lidschatten auftragen würde, wagt solche Farben eher an den Finger- und Fußnägeln, wo sie zwar auch auffallen, aber den Typ nicht vollkommen verändern.  

Allerdings wird der Trend zum Gaga-Nageldesign nicht ausschließlich positiv betrachtet. Denn manche Beobachter sehen den Trend als Zeichen der zunehmenden mentalen Regression von Frauen: Die Kindfrau von heute kreischt beim Anblick von Cupcakes und Katzenbabys, trägt am liebsten pastellfarbene Hängerkleidchen und findet es niedlich, wenn sich auf ihren Nägeln die Muppets tummeln. Vorbilder für diese Sorte Frau sind Popstars, wie Katy Perry und die Rapperin Nicki Minaj, die einen Stil vorleben, der irgendwo zwischen explodiertem Kinderzimmer, Maltherapie und der Cosplay- und Visual Kei-Ästhetik der Harajuku-Girls aus Japan steht. Diese Vorbilder und die steigenden Verkaufszahlen von Nagellack sind laut der Essayistin Deborah Schoeneman ein Zeichen für die zunehmende Infantilisierung von Frauen, die sich angesichts der schlechten Wirtschaft nicht dazu entschließen können, einen erwachsenen Lebensentwurf anzugehen, sondern ihre Adoleszenz so weit wie möglich hinauszögern. Sowohl durch ihren hedonistischen Lebensstil, als auch durch ihren kindlichen Stil, der ausdrücken soll: ich bin alles, außer Erwachsen.

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