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Alle lächeln. Die ganze Zeit. Besonders, als die Gegendemonstranten ihnen ihre Parolen entgegenrufen. Die Teilnehmer des „Marschs für das Leben“ tragen weiter unbeirrt ihre großen weißen Holzkreuze in Richtung Berliner Dom. So, als wollten sie sagen: Jesus liebt auch euch.

Der Platz vor dem Bundeskanzleramt ist an diesem Septembersamstag voll mit grünen Luftballons. 5000 sogenannte „Lebensschützer“ haben sich nach Angaben der Polizei an diesem Tag dort versammelt, um gegen Abtreibungen zu demonstrieren. Auf ihren grünen Schildern kleben Slogans wie „Abtreibung ist Unrecht“ und „Selbstbestimmung ist nie grenzenlos“, aber auch Fotos von Babys. Auf dem Podium spricht eine Frau, die selbst abgetrieben hat. Sie erzählt davon, wie sehr sie es heute bereut und wie Gott ihr verziehen hat.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Es ist das elfte Mal, dass sich die "Lebensschutz"-Bewegung zum „Marsch für das Leben“ trifft. 2002 fand die Demo das erste Mal statt, 800 Teilnehmer waren es damals. Danach wurde die Veranstaltung zunächst alle zwei Jahre wiederholt, seit 2008 jedes Jahr. Die Bewegung hat Zulauf, die Teilnehmendenzahlen steigen kontinuierlich. Papst Franziskus hat seine Unterstützung ausgesprochen, zahlreiche Bischöfe und Abgeordnete senden jährlich Grußworte. Die meisten von ihnen gehören der CDU/CSU an, aber auch AfD-Mitglieder unterstützen den "Marsch für das Leben". Die Menge ist auffallend durchmischt: Menschen verschiedener Altersstufen und Geschlechter finden sich unter den Demonstrierenden, Geistliche in ihren Priestergewändern ebenso wie junge Paare, Familien mit kleinen Kindern und Gruppen von Jugendlichen mit Dreadlocks. Auch viele junge Frauen sind dabei.

Um das Thema "Abtreibung" wurde es die letzten Jahre ruhig. Die Lebensschutzbewegung hat sich hingegen verändert


Über 40 Jahre ist es her, dass prominente Frauen im Stern erstmals bekannten: „Wir haben abgetrieben“. Vor 20 Jahren wurde endgültig die umkämpfte Fristenregelung in der BRD verabschiedet, nach der Abtreibungen bis zur zwölften Woche und nach vorhergehender Beratung straffrei sind. Die Möglichkeit zur Abtreibung erscheint somit in Deutschland seit langem selbstverständlich. Aus feministischer Sicht eine große Errungenschaft. Und nun auf einmal also dieser zunehmende Widerspruch gegen die Dinge, die die Generation unserer Großeltern mühevoll erkämpft hat. Warum?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Dr. Ulrike Busch forscht an der Hochschule Merseburg zu ungewollten Schwangerschaften, zusammen mit Prof. Dr. Daphne Hahn hat sie vergangenen Dezember das Buch „Abtreibung – Diskurse und Tendenzen“ herausgebracht. Nach der Reform des Paragraphen 218 in den 1990er Jahren sei es von feministischer Seite relativ ruhig um das Thema Abtreibung geworden, sagt Busch. Viele junge Frauen wüssten noch nicht einmal, dass es einen Paragraphen 218 gibt, nach dem Abtreibung nach wie vor eine Straftat gegen das Leben und nur unter bestimmten Bedingungen straffrei ist. "Die Lebensschutz-Bewegung hat sich hingegen verändert", stellt die Professorin fest. „Früher waren es die üblichen Verdächtigen, alte Herren und Damen mit weißen Kreuzen. Inzwischen hat sich die Bewegung partiell säkularisiert und zieht immer mehr moralisch engagierte junge Leute an."

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Eine davon ist Vroni, 16, die mit zwei ihrer Freundinnen extra aus Bayern nach Berlin gereist ist, um beim Marsch für das Leben dabei zu sein. Ihr Hauptgrund, zur Demo zu kommen: „Die Gemeinschaft und dass so viele junge Leute teilnehmen“ – und natürlich das Thema. Ihre Freundin Magdalena, 17, sagt: "Es passieren so viele Morde, bei denen man gar nicht merkt, dass es Morde sind". Auch im Falle einer Vergewaltigung wäre Magdalena gegen Abtreibung: „Es gibt immer andere Möglichkeiten als einen Mord zu begehen“. Falls das Leben der Mutter in Gefahr ist, sei es natürlich schwieriger, dennoch ist sie der Meinung: „Eine richtige Mutter liebt ihr Kind so sehr, dass sie auch ihr eigenes Leben hingeben würde“. Einer aktuellen Umfrage vom Bundesamt für Statistik zufolge sind nicht alle Jugendlichen in ihrer Haltung so klar wie Vroni und Magdalena. Auf die Frage „Käme eine Abtreibung für dich infrage?“ antworteten 40 Prozent der Jungs und 35 der Mädchen mit „Ich weiß es nicht.“ Die Antwort „Auf jeden Fall“ hatte nur etwas mehr Zustimmung als „Auf keinen Fall.“ Der Kampf um die Meinungshoheit bei dem Thema ist also weiterhin nicht entschieden.

>> Was der Marsch fürs Leben mit Pegida und der AfD zu tun hat >>



Laut Beatrix von Storch brauchte das Thema "Lebensschutz" einfach seine Zeit, „um in dem Bewusstsein der Menschen anzukommen" Und die sei jetzt gekommen. Von Storch ist Europaabgeordnete der AfD und selbst dort noch dem rechts-konservativen Spektrum zuzordnen. Sie führte den „Marsch für das Leben“ dieses Jahr gemeinsam mit dem Organisator Martin Lohmann an. Schon 2014 trug sie das Fronttransparent. Die wachsenden Teilnehmerzahlen, so von Storch, seien auch als Reaktion auf aktuelle politische Entwicklungen zu deuten, wie zum Beispiel die Debatte um Sterbehilfe. „Immer mehr Menschen sehen das Paradox zwischen der großen Debatte um die demographische Misere in Deutschland und dem parallel stattfindenden großen Schweigen zu 100.000 Abtreibungen pro Jahr", sagt von Storch.

Tatsächlich ist Abtreibung nicht das einzige Thema, dem sich die "Lebensschutz"-Bewegung angenommen hat. Ulrike Busch erklärt, ihr Erfolg liege „unter anderem darin, dass sie gezielt Themen identifizierten, die den Zeitgeist treffen und diese aus einer konservativen Position heraus für sich besetzten: Pränatale Diagnostik, Reproduktionsmedizin, Inklusion, Sterbehilfe.“ Dabei benutzen sie allerdings nicht mehr ausschließlich veraltete Argumentationsstrategien wie "Wer abtreibt, kommt in die Hölle", sondern weltliche Argumente - wie den genannten demographischen Wandel. So besetzt die "Lebensschutz"-Bewegung Themengebiete, die auch Bewegungen wie Pegida, die Elterninitiativen gegen die Vermittlung sexueller Vielfalt an Schulen und Parteien wie die AfD beschäftigen. Sie alle fangen mit ihrer „das wird man doch noch sagen dürfen“-Rhetorik diejenigen auf, die Angst vor dem Zeitgeist haben, der langsam an ihnen vorbeischreitet.

„Die Lebensschutz-Bewegung inszeniert sich geschickt auf sehr moralisierende Weise, als Wächter über das Gute“, beobachtet Wissenschaftlerin Ulrike Busch


Die neue Themenvielfalt der "Lebensschutz"-Bewegung findet sich auch in den Slogans bei der Kundgebung in Berlin wieder: Neben „Inklusion statt Selektion“ wird auch über Geflüchtete gesprochen. Von einer „Willkommenskultur für Babys“ ist zu lesen. Eine der Rednerinnen auf dem Podium ist die Mutter eines Kindes mit Trisomie 21. „Ist auch ein ganz lieber Kerl, der Joshua“, sagt Moderator Martin Lohmann über ihren Sohn, als bedürfe es dieser Argumente, um Joschuas Recht auf Leben zu bekräftigen.

Lohmann ist der Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht e.V., dem deutschlandweit 14 Vereine angehören und der den jährlichen Marsch organisiert. Er ist der Kopf der Bewegung gegen Abtreibung. Sein Gesicht ist überall zu sehen, seine Statements überall zu lesen, wo es um den „Marsch für das Leben“ geht. Bis 2013 war der Publizist und Kolumnist bei der Bild-Zeitung Mitglied der CDU – bis er austrat, weil er die christlichen Werte von der Parteiführung vernachlässigt sah. Zu einem Interview mit jetzt.de zeigte sich Lohmann nicht bereit - seine Vorabbedingung war die Herausgabe der privaten Kontaktdaten der Autorin.

Auf der Kundgebung spricht er mit eindringlich langsamer, betont sanftmütiger Stimme. In seiner Ansprache fallen Worte wie Toleranz und Respekt, er erwähnt das Recht auf Leben von Geflüchteten und spricht sich explizit gegen Fundamentalismus und Extremismus aus. Zusammen mit den grünen Schildern und Luftballons fügt sich alles perfekt zusammen zu einem Bild von politisch gemäßigter, positiver, lebensbejahender Friedfertigkeit. Ein anknüpfungsfähiges Bild.

„Die Lebensschutz-Bewegung inszeniert sich geschickt auf sehr moralisierende Weise, als Wächter über das Gute“, beobachtet Wissenschaftlerin Ulrike Busch. Menschen, die sich in der Situation einer ungewollten Schwangerschaft befänden, würde das nicht gerecht. Die aggressive und manipulative Art von „Lebensschützern", Frauen moralisch unter Druck zu setzen, könne Frauen durchaus psychisch belasten.

„Das Gute am Schlechten“, so Busch, sei dass die junge queerfeministische Bewegung das Thema Abtreibung jetzt wieder aufnehme und sehe, „dass hier nicht alles erledigt ist“. Das tut sie in der Tat. Die glitzerwerfenden Gegendemonstranten sind in der Unterzahl, zwischen 1700 und 2500, doch sie sind wild entschlossen. Zwei Stunden lang halten sie den „Marsch für das Leben“ auf dem zentralen Boulevard Unter den Linden blockiert, bis die Polizei ihre Sitzblockaden räumt. Von 2007 bis 2014 ist die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland übrigens rapide gesunken - um knapp 15 Prozent. Trotz Fristenregelung.


Text: lou-zucker - Fotos: ka-di/photocase, oh, dpa

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