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Kommentar: Das Kopftuch - der Stoff, aus dem die Alpträume sind

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Wer hätte in den 60er Jahren gedacht – als zigtausend muslimische Männer nach Deutschland zum Arbeiten kamen und auch ihre Frauen und Töchter nachholten –, dass ein Teil ihrer Kultur und ihres Glaubens solch einen Wirbel verursachen würde.

Heute aber gibt es diesen Stoff, aus Seide, Polyester, Leinen oder Baumwolle in fast jeder Rubrik großer Zeitungen oder im Fernsehen zu entdecken – das sogenannte Kopftuch. Der Stoff, aus dem Europas Alptraum gemacht ist. Ein Stoff, der Rückständigkeit, Unterdrückung und Gewalt symbolisieren soll. Aus den fleißigen Männern, die in den 60ern kamen, sind heute Väter und Großväter geworden. Sie haben Töchter. Manche von ihnen demonstrieren mit dem Kopftuch ihre religiöse Zugehörigkeit – und entfachen heute einen Sturm der Empörung und Verzweiflung in dieser Gesellschaft. Durch Aussagen von Politikern wie Ekin Deligöz (Grüne) oder Mehmet Daimagüler (FDP) und Aktivistinnen wie die Rechtsanwältin Seyran Ates oder die Soziologin Necla Kelek erlebt das Kopftuch derzeit wieder eine neue Aufmerksamkeit. Dass sie nicht positiv ist, diese Aufmerksamkeit, das sehen wir an den Reaktionen auf allen Seiten. Was in Deutschland derzeit geschieht, ist ein Desaster: Der Streit um das Kopftuch verdeckt das eigentliche, das wirkliche Thema – die Integration. Es scheint so, als könne man diese immer größere Kluft zwischen Muslimen und Nichtmuslimen nicht wirklich in den Griff bekommen. Immer wieder ist die Rede von diesem kleinen Stück Stoff auf den Köpfen der Frauen und jungen Mädchen, es ist die Rede von Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen den muslimischen und nichtmuslimischen Frauen. Seyran Ates und Ekin Deligöz fördern durch ihre Äußerungen wie, „Ich appelliere an die muslimischen Frauen: Kommt im Heute an, kommt in Deutschland an. Ihr lebt hier, also legt das Kopftuch ab!“ eine hitzige Art von Debatte – ohne wirklich einen ehrlichen und fruchtbaren Beitrag zu einer ordentlichen Integration von Muslimen, die hier bereits seit Jahrzehnten einen Teil der deutschen Gesellschaft darstellen, bewirkt zu haben.

Ekin Deligöz. Statt dessen vergrößert sich der Graben zwischen Nichtmuslimen und Muslimen immer mehr. Warum? Weil man versucht, sie auf wenige Symbole zu reduzieren. Denn ist das Kopftuch wirklich das Problem, woran die Integration von Muslimen scheitert? Wird durch ein Verbot des Kopftuches tatsächlich Frieden zwischen Muslimen und Nichtmuslimen entstehen? Ist der Integrationswille nur durch das Ablegen des Kopftuches möglich? Wie viele tragen denn kein Kopftuch und fühlen sich mit diesem Land nicht verbunden? Was ist mit der Zeit, wo es noch nicht so viele Frauen gab, die ein Kopftuch trugen? Wie oft sahen wir in den 70er, 80er und 90er Jahren Mädchen und junge Frauen auf den Schulhöfen und auf den Straßen mit Kopftuch? Waren es so viele wie heute? Soweit ich mich erinnern kann, nicht. Lief damals die Integration besser als heute? Waren Muslime damals besser akzeptiert als heute, obwohl das Kopftuch zu dieser Zeit keine bedeutende Rolle gespielt hat? Wenn Günther Beckstein (CSU) heute fordert, dass, wer hier leben möchte, die deutschen Werte akzeptieren müsse, dann hat er wohl die Entwicklungen der vergangenen Jahre übersehen. Die meisten Muslime haben die Werte bereits verinnerlicht, doch sie werden zum größten Teil immer noch nicht akzeptiert. Doch leider ist davon heute nicht die Rede. Stattdessen wird darüber diskutiert, welche Gefahr von diesem Kopftuch ausgeht. Wer dagegen ist, wird bedroht, wer dafür ist, wird als rückständig und naiv abgestempelt. Aus dem Kopftuch ist ein Instrument der verschiedenen Vertreter geworden, seien es Politiker oder auch religiöse Führer. In die Köpfe der Menschen kann man nur sehr schwer sehen – doch was der Mensch auf dem Kopf trägt, ist sofort erkennbar. Eines ist allen klar, ob sie es nun zugeben oder nicht: Das Kopftuch ist weder ein Modeaccessoire noch irgendein unbedeutendes Ding mehr, hierfür haben alle Seiten gesorgt. Die Zeiten, als man das Kopftuch einfach trug, weil es Teil einer Tradition war und zum Werdegang gehörte, sind vorbei. Das Kopftuch ist inzwischen ein Maßstab für den Integrationswillen geworden. Das Ziel sollte nun sein, diese Debatte in eine ernsthafte und konstruktive Diskussion für eine langfristige Integration zurück zu lenken, um größeren Schaden und Abwendung in dieser Gesellschaft zu vermeiden. Es sollte endlich erkannt werden, dass das Kopftuch nicht die Probleme in dieser Gesellschaft verursacht hat und nun durch die Abschaffung nicht alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen wird. Dies wäre naiv zu glauben. Vielleicht birgt die Farbe Grün ein Zeichen - die auch die Farbe des Islam ist. Denn die Grünen und die muslimischen Verbände sind sich, was die Presse- und Meinungsfreiheit anbelangt, schon mal einig geworden. Man kann hoffen, dass endlich erkannt wird, dass nicht das Kopftuch das Problem ist, sondern der Wert, den man diesem Stück Stoff beimisst. +++

Sineb El Masrar ist die Chefredakteurin der Zeitschrift Gazelle, die sich vor allem an junge Migrantinnen richtet. jetzt.de hat Gazelle bereits in einer Reportage vorgestellt.

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