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Meine Chat-WG

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Früher war man Mitglied im Sportverein, danach im Jugendclub, danach begann das digitale Zusammenrotten und man trat StudiVZ-Gruppen bei. Heute findet man sich in Facebook-Gruppen oder Google+-Circles zusammen, oder könnte dort zusammen finden, vergisst aber meistens, dass man drin ist. Eigentlich ist nur die Gründung interessant oder der Klick, mit dem man seine Mitgliedschaft besiegelt, weil man sich über den schönen Namen freut oder über die Leute, die auch dabei sind und mit denen man dann etwas gemeinsam hat. Eine Art des online-Zusammenschlusses allerdings wird viel zu wenig genutzt und geschätzt: die Skype-Gruppenchat-Funktion.

Man kann mit ausgewählten Menschen aus der Skype-Kontaktliste einen solchen Gruppenchat gründen. Angeblich mit bis zu hundert Personen. Und jeder, der dabei ist, kann ebenfalls Kontakte aus seiner Liste hinzufügen. Es gibt verschiedene Arten des Gruppenchats, zum Beispiel jenen, in dem sich Kollegen, die weit übers Land oder die Welt verteilt sind, treffen und diskutieren. Solche Chats möchte man sich gerne als die neuen Think Tanks vorstellen, als Orte, an denen die Ideen von morgen entstehen, und zwar ganz nebenbei, weil man ja meist, wenn man den Skype-Chat nutzt, gleichzeitig auch noch vier bis fünf andere Sachen macht. Ebenfalls funktional ist der auf die Freizeit ausgerichtete Gruppenchat: Anstatt zehn Telefonate führen zu müssen, bis jeder weiß, wer heute Abend wo hingeht und wer sich wo trifft, besprechen sich die Weggeh-Freunde Freitag- und Samstagabend per Instant Messaging. Neben einer Planungsplattfom, die immer irgendwie vorübergehend sein und die Mitglieder auswechseln wird, kann man per Skype aber auch etwas ganz Unfunktionales und Heimeliges erschaffen, einen Ort, an dem man sich ausruht: den Gruppenchat als Wohnzimmer.

Ich bin seit mehr als zwei Jahren Mitglied einer Chatgruppe, die aus sieben Menschen besteht, welche über das ganze Land verteilt leben, zeitweise sogar in verschiedenen Ländern. Zwei davon habe ich erst ein- oder zweimal in meinem Leben persönlich getroffen, sie sind Freunde eines Freundes, der ebenfalls Mitglied ist. Trotzdem weiß ich sehr viel von ihnen und sie wissen viel von mir, weil sich im Gruppenchat alle alles erzählen und sich austauschen wie es auch gute Mitbewohner tun. Eine Einzelperson chatte ich selten an, meist nur dann, wenn es ein besonderes Anliegen gibt, wenn etwas zu klären, zu planen oder zu besprechen ist. Der Einzelchat ist wie das WG-Zimmer, an das man ja auch nicht alle naselang klopft, wenn man grade mal Lust hat, einen Witz los zu werden. Der Gruppenchat aber ist das Wohnzimmer, hier kann ich einfach etwas in den Raum rufen. Die Verpflichtung, zu antworten, ist weniger groß als beim Klopfen an die Zimmertüre, eventuell liest man gerade Zeitung und mischt sich erst danach ins Gespräch ein – mit dem großen Vorteil, dass man nicht nachfragen muss, um was es geht, sondern sich einfach die Konversation durchlesen oder nach Schlagworten suchen kann, um ein Thema aufzuholen. Das Wohngemeinschaftsgefühl geht so weit, dass zwei Mitglieder der Gruppe sich regelmäßig zum gemeinsamen Fernsehen im Chat verabreden. Und während sie in einer Art Live-Berichterstattung das Programm kommentieren, sprechen zwei weitere Personen gleichzeitig über die Beziehung oder die Landtagswahl, so, als säßen sie im gleichen Raum. Allerdings besteht im Gruppenchat die Möglichkeit, an zwei oder drei gleichzeitig geführten Gesprächen teilzuhaben. Und nicht nur in diesem Falle, sondern auch, wenn alle Mitglieder ein und dasselbe Thema drehen und wenden, entsteht eine eigene Gesprächsdynamik, die sich vor dem altbekannten Phänomen des Chatrooms dadurch auszeichnet, dass die Protagonisten ein eingespieltes Team sind. Die Konversationen haben dadurch eine harmonische, sich automatisch ergebende Choreographie.

Der Skype-Freunde-Gruppenchat erfüllt daher, viel mehr als jeder Facebook-Status und jeder Tweet, das „You are not alone“-Prinzip. Er ist eine feste Gemeinschaft, in der Prüfungsängste bekämpft, Ideen durchgesprochen, Neuigkeiten ausgetauscht oder einfach eine halbe Stunde lang Witze gemacht werden. Wenn eine Person krank, aber gerade nicht online ist, fragt derjenige, der online geht, bei den im Chat Versammelten nach, ob XY denn heute schon dagewesen sei und wie es ihr denn ginge. Selbst, wenn man am Morgen nur ein kurzes „Wie geht’s?“ und „Gut, dir?“ austauscht, hat man das Gefühl, dass jemand Vertrautes da ist, an den man sich wenden kann, wenn es über Tag mal hakt. Sogar, wenn doch mal alle Wölkchen grau sind, kann man seine Sorge oder seinen Witz ins Wohnzimmer hineinschreiben und davon ausgehen, dass irgendwann später jemand mit einem Trost oder einem Lacher darauf reagieren wird.

Und nein, die Mitglieder des Gruppenchats sind keine kümmerlichen, einsamen Menschen, die niemals raus gehen oder ständig Verabredungen absagen, weil sie lieber online sind. Sie sagen bloß den sechs anderen bescheid, dass sie gleich Besuch bekommen oder jetzt dann mal an die Uni / zum Kaffeetrinken / auf diese Party gehen. Sie verbringen verkaterte Sonntage oder Lern- und Hausarbeitsphasen zusammen, also all die Zeit, in der sie sowieso ihren Computer nutzen. Eines aber kann man ihnen sehr wohl unterstellen: Sie sind nicht gerne allein. Aber manchmal gern alleiner als im sozialen Netzwerk. Und der Schritt vom Netzwerk in den Gruppenchat ist wie das Nachhausekommen aus der völlig überfüllten Fußgängerzone ins Wohnzimmer, in dem deine sechs Mitbewohner sitzen und der eigene Sessel garantiert noch frei ist.

Text: nadja-schlueter - Illustration: Katharina Bitzl

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