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Mit dem Rad nach Granada (II): Wie Tobias an der Kasse fast umfällt

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1. Astronautenherberge Man fährt und fährt, die Landschaft eben noch karg, felsig, wird satt und grün. Provence. Wärme. Französische Mittagsstille. Schlendere ich eben noch über einen Brocante in der Provinz, finde ich mich in einem Gasthaus in Les Mees wieder, ein stiller Ort nahe Sisteron, wo auch schon Napoleon auf seiner Rückkehr aus dem ersten Exil eine kurze Rast zur Nacht nahm. Clement und Olga führen hier ein weithin bekanntes, fast märchenhaftes Anwesen.

Olga und Clement. Die Nacht, sonst 70 Euro, verbringe ich auf ihre Einladung hin im Anwesen, und ich solle betonen, so der Auftrag von Clement, dass hier jedes Jahr der deutsche Astronaut Ulf Merbold seinen Frankreichurlaub verbringe. Jedes Zimmer, an sich kemenatenhaft, hat eine individuelle Farbe, postkartisch mutet alles an. Man stellt mir die Familie vor, Christine, die Tochter Olgas ist sehr pikiert als ich ihr die Hand reiche und erinnert mich mit hingehauchten Küssen an französische Begrüßungsformeln. Pardon, ich vergaß. Abendlich wird groß im Kreise der agilen Patchworkfamilie gespeist, Olga ist berühmt für ihre Kochkunst und in Iwanowskys Provence Reiseführer, so wird mir stolz gezeigt, hat das gastliche Haus rund um die Familie eine ganze Seite für sich. Himmelbett, eigenes Bad, Ulf Merbolds Domizil ist heute meines. Köstliche Confitüren von Olga am Morgen, zum Beispiel scharf-süsse Tomaten, eingenommen in einer Küche aus Urgroßmutters Zeiten.

Olga in ihrer Küche. Die ganze Seite im Reiseführer ist das Mindeste, was die beiden Herrschaften für ihre Gastfreundschaft verdienen. Mit wehenden Fahnen fahre ich von dannen, lasse dies Idyll zurück, nachdem man mir das Versprechen abgerungen hatte, in weiblicher Begleitung wiederzukommen. Sehr gern. Die Stationen dieses Reiseabschnitts sind Grenoble - Gap - Les Mées.


2. Mordwind und Myxomatose Grenoble, Sisteron, der Conyon du Verdon, die Lavendelfelder vor Grasse und dann die sehr touristische Côte d'Azur, die mir irgendwie zuwider ist.

Sonnenaufgang am Mittelmeer. Marseille, der Moloch im Süden Frankreichs. Viele Nächte im Zelt, auf Parkbänken, als Gast, liegen hinter mir. Durch den Mistral, diesen Mordwind, schaffe ich es bis in die Camargue. Einsam, windumbrandet, liegt sie da. Wie die Lüneburger Heide mit viel Wasser und Wind. Wäre der Wind dort nicht, es wäre grabesstill. Sanddünen reichen bis ins Meer, reichen zu einer kleinen Strasse. Da fuhr ich, am Rand kauerte ein Kaninchen, keine Anstalt zu entfleuchen. Ich griff danach. Das warme, vor Angst bummernde Geschöpf war blind, Myxomatose. Eigenartiges Gefühl, zu sehen, wie es blind und hilflos umherschlich, jedem Jäger aufs Tablett ausgeliefert. Ich lasse ab von ihm. Nur wenige Kilometer weiter traute ich den Augen kaum, als ein Flamingo, nein, zwei, in den Brackwassern wateten.

Camargue. Flamingos. Dann schwarze, wilde Pferde, dann Dünen, dann Meer. Alles nur durch das leichte Tosen des Windes untermalt. Die Sonne sinkt hinter meinem Rücken, die Nacht kommt in den Dünen über mich. Stationen: Canyon - Gorge du Verdon und Lac de St. Croix - Grasse - Cannes - Saint-Raphaël (Provence) - Saint-Tropez - Toulon - Marseille - Parc Naturel Régional de Camargue.


3. Kite-Surfer, Ornithologen Am nächsten Morgen kommt ein junger Mann mit Fernglas, von dem ich glaube, er dreht gleich wieder um, da ich nackt um mein Lager spaziere, kaffeetrinkend, sonnetankend. Er dreht nicht, ich ziehe meine Hose an, es ist Brice, Ökologe und Ornithologe, 25, aus Mulhouse im Elsass, hier in der Camargue in seinem Paradies als Freund der bunten Vogelkunde.

Camargue. Brice und Crew. In der Nacht ist er mit Freunden an den Strand gekommen, die einzig dem Kiting frönen wollen. Er ist der einzige Nicht-Kiter und kommt mir etwas verloren vor. Wir reden Stunden und er lädt mich ein zu bleiben, zum Kitefestival, hier am Strand. Derweil wir Worte tauschen, sammelt der Strand Drachenvolk. Unbeständig bläht der Mistral in die Kite-Drachen, so mancher scheint gezogen zu werden, hinfort aufs Meer. Ein wenig bleibe ich. Doch irgendwann zieht es mich weiter, allen sage ich Adieu, dann gen Arles. Der Wind an dem Tag wurde stärker und stärker. Station: Parc Naturel Régional de Camargue


4. Nicht umkippen! Mistral, du hältst den Himmel blau und mein Rad unter 15 Kilometer die Stunde. Wenig Wasser habe ich, mache meinen Weg, links und rechts nur Brackwasser, nirgends eine Möglichkeit, die Wasserflasche nachzufüllen. Nirgends ein Ort, wo man vielleicht nach Wasser fragen könnte. Es ist kurz vor Arles, es ist Abend, 80 Kilometer sind vergangen: ein kleiner Supermarkt. Ich mache Einkauf, befinde mich im Kassenwartestand. Leise wird`s um mich, als würde man den Ton abdrehen, dann gehen die Lichter aus. Einem alten RFT-Fernseher gleich, dem die Bildröhre abhanden geht, wird mir das Licht der Augen genommen. Sowas hatte ich noch nie. Denken geht noch, bin gleich dran mit bezahlen, beide Hände auf das Kassenband, glaube, alles sieht mich fragend an – Nur nicht umkippen! Bevor es schwarz wird schaffe ich noch einen Schluck Saft, dann denke ich nur noch "Stehenbleiben!" Es klappt. So dachte ich noch gleich Hilfe zu brauchen, jedoch hat jemand mein Licht wieder angemacht und ich kann kreidebleich, kaltschweissend, bezahlen und falle über die nächste Wasserquelle her. Vorsicht Herr Fischer, immer schön vorsichtig sein. Stationen: Arles - Avignon.
5. Kleine Kuppler Erst Arles, dann kann Avignon kommen! Aber bevor die Stadt der Päpste mein wird, stellen sich mir Mathieu und Leonel in den Weg, kleine Jungen, die ganz begeistert sind von dem modernen Cowboy. Die ganze Ausrüstung muss ich ihnen zeigen. Auch sie wollen, wie andere schon so oft, das schwere Rad anheben. Die Bergmeisterin bewegt sich unbeeindruckt von den Stemmversuchen der beiden Jungen keinen Zentimeter in die Luft. Mathieu will mich gleich mit seiner Mutter bekannt machen, die allein lebt. Ich lache, lehne dann aber doch eher ab. Familiengründung auf französisch, vielleicht ein anderes Mal.

Mathieu und Leonel, die kleinen Kuppler. Stationen: Arles - Avignon.


6. Brüllend die Treppe hinab Hallo Montpellier!

Wollte ich dich ruhen lassen und bist doch unter meine Räder gekommen.

David treffe ich, als ich nur den Weg ins Zentrum wissen will - und habe schnell seine Wohnungsschlüssel in der Hand. Selbst Globetrotter, ist Gastlichkeit für ihn eine Tugend. Die Studentenstadt, bunt und lässig, hat ihm eine Wohnung im Zentrum mit Blick über die ganze Stadt beschert. Er erzählt von Marokko, seiner Arbeit im Musikgeschäft. Gebannt höre ich seit Wochen erstmals wieder Musik aus einer Anlage. Puppetmasterz aus Berlin, "Roots" von Sepultura kriege ich zu hören, ich empfehle ihm Edgar Varèse und seine Experimentalmusik. Wir tauschen eine Liste mit Muss-Filmen. “Aus Versehen”, wie er seltsam lustig bemerkt, hat seine Freundin heute Geburtstag, also mache ich vorerst meinen Nachtgang durch die lebendige Stadt allein. Vor dem Stadttheater treffe ich Karim, Marokkaner, noch ein Brice kommt hinzu, lange Worte folgen. Amine, Fella, Rafik, Gaststudenten aus Algerien kommen und Sandrine, die mir ein langes Gespräch auf der Strasse schenkt, das intensiv ist. Sie sagt: "Because you shine!" und dankt dafür, dass wir uns getroffen haben, es hätte ihr Kraft gegeben. Zum Abschied müssen wir beide fast weinen, sie drückt mich fest. Wieder eine von den Begegnungen, kurz, intensiv, so voll von Leben. David zeigt mir am nächsten Tag die Stadt und an der Universität stehen plötzlich Janis, Janis und Nauris aus Riga um mein Rad und diskutieren. Sie sind auch mit dem Rad unterwegs von Riga nach Barcelona, zur gleichen Zeit wie ich losgefahren und haben auch fast die gleiche Kilometerzahl von circa 3500 Kilometern hinter sich. Das spricht für meine Umwege. Zurück zu David. Ich packe meine Sachen, und bekomme einen Schock. Mein Rad, im Hausflur geparkt, der mit Türcode gesichert ist, ist weg. Brüllend rase ich die Treppe hinab, David hat grosse, verschreckte Augen. Auf der Strasse kein Velo, nirgends. Ruhigbleiben. Durchatmen. Was nun? Nach der einfachsten Möglichkeit suchen! Tatsächlich, ein Nachbar hatte es in den Keller gestellt. Wir können wieder lachen, die Räder rollen weiter, ans Meer. Spanien kann man fast riechen. Ich zähle mein Geld für den Monat, den ich, ein Experiment, ohne Geldautomatennutzung schaffen will, nachdem ich einige Vagabunden traf, die sich schon jahrelang derart durchs Leben schlagen. Noch bleiben mir zehn Euro als letztes Aufgebot. Die Stationen dieses Abschnitts: Nimes - Aigues-Mortes - Montpellier.

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