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Neuer Trend? Die Japaner lesen Bücher auf dem Handy

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Gilles Deleuze hätte die Idee vermutlich sogar gefallen. „Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art des Lesens“, hatte der französische Philosoph geschrieben, und: „Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt.“ Die Entscheidung des Berliner Merve-Verlags also ausgerechnet die Werke sperriger, postmoderner Autoren wie Deleuze, Paul Virilio oder Reinald Goetz als „mobile Inhalte“ anzubieten, macht durchaus Sinn. Seit einiger Zeit kann man sich jeden Tag per GPRS ausgewählte Aphorismen zur Lebensbewältigung für drei Euro schicken lassen, und sich langsam durch die 300 Display-Seiten klicken. Deleuze, Virilio oder Baudrillard wollten schließlich nicht in einer Zeremonie vor dem Kamin gelesen werden, sondern in Bewegung bleiben, und vielleicht ist der beste Ort für die Lektüre also wirklich: die S-Bahn.

Ein schöner Gedanke, dass die Menschen, die in der Bahn auf das Display starren und tippen, sich gar nicht für eine Verspätung entschuldigen oder mal wieder die Ehefrau anlügen, sondern große Gedanken und zeitlose Sätze lesen. E-Book-Geräte wie etwa der Sony Reader oder der iRex iliad haben sich noch gar nicht durchgesetzt, da kommen die Verlage mit der nächsten Revolution daher: der Versand von Bücher oder Buch-Teilen auf das Handy. Das U-Book (ubiquitous: allgegenwärtig) gilt in Japan und Korea – den Zentren der Technikgläubigkeit – spätestens seit diesem Jahr als gesellschaftsfähig. Nach einem aktuellen Bericht der japanischen Zeitung „Mainichi Shimbun“ nutzen bereits Millionen von Mobilfunk-Kunden die mobilen Romane. Einer der ersten Bestseller des neuen Genres ist der Titel „Deep Love“, der vor allem von Schulmädchen (sic!) gelesen werde und bislang 20 Millionen Mal runter geladen wurde. Im Buchformat verkaufte sich die Liebesgeschichte nur 2,7 Millionen Mal. Sci-Fi, Pulp-Literatur und Cartoons – die Hits der japanischen Wegwerf-Lesekultur – verkaufen sich auch im neuen Aggregatszustand prächtig. Mit Mobile-Cartoons werden laut Newsweek zur Zeit 38,5 Millionen Dollar pro Monat umgesetzt. Marktführer NTT Solmare verkauft nach eigenen Angaben pro Monat mehr als zwei Millionen der 40 Cent teuren Cartoon-Clips. Auch Sony stieg kürzlich in den boomenden Markt ein und schloss einen Vertrag mit zehn populären Comic-Autoren. Auf zahlreichen Mobile-Book-Webseiten findet sich alles von Klassikern über Trash-Literatur bis zu Büchern, die speziell für das neue mobile Lesen geschrieben wurden. Laut einer Studie der Firma Bandai sind mehr als 60 Prozent der Kunden weiblich. Gefragt seien vor allem Reiseführer, Wörterbücher und Enzyklopädien, aber auch Sexratgeber und erotische Mangas. Pragmatisch wie die Menschen sind, haben sie sofort einen großen Vorteil des Handy-Buchs für sich genutzt: Niemand kann dir über die Schultern schauen! Und: Man muss kein Yoga-Guru sein, um in der überfüllten U-Bahn gemütlich zu lesen. Auch in den USA und Europa gibt es mittlerweile Verlage, die das Handy-Buch als neuen Trend bewerben. Der weltgrößte Verlag Randomhouse will zuerst Sprachführer und Videospiel-Tipps per Download vermarkten, später sollen aber auch Romane folgen. In England ist das Startup-Unternehmen ICUE aktiv, das eine „Mischung aus Amazon und iPod“ werden will. Der ICUE-Kunde kauft Bücher und Texte direkt über das Handy. Beim Lesen muss er nicht durch den Text scrollen, die Software von ICUE zeigt das Buch Wort für Wort oder Teilsatz für Teilsatz auf dem Handydisplay an. ICUE hat nach eigenen Angaben bisher etwa 10 000 Kunden. Der Katalog an Büchern, die abschnittsweise auf dem Handy-Display angezeigt werden können, umfasst mehrere hundert Bücher. Ein E-Book kostet fünf Pfund. Ein Handy soll 100 bis 200 Bücher aufnehmen können. Das Handy-Buch ist natürlich ein wunderbares Feindbild für Medienkritiker, die sich über sinkende Aufmerksamkeitsspannen und die Überbeschleunigung des Lebens an sich beschweren. In wie weit diese Form des Textkonsums das Lesevergnügen und das inhaltliche Verständnis beeinträchtigen wird, muss sich noch zeigen. Vielleicht werden Bücher editiert und gekürzt werden, oder dicke Dinger wie „Krieg und Frieden“ oder „Faust II“ als S-Bahn inkompatibel deklariert und aus dem Programm entfernt werden. Vielleicht kann das Handy als Marketing-Instrument ja wirklich so genannte bildungsferne Schichten an Bildung heran führen, weil sie nicht in tempelartige Bibliotheken gehen müssen, sondern das Buch mit Lichtgeschwindigkeit zu ihnen kommt. Deleuze hat geschrieben: „Ein Buch muss mit etwas anderem eine Maschine bilden.“ Das klingt ganz nach dem koreanischen U-Book-Konzept, nach dem das Buch in eine Datei umgewandelt werden soll, und dann vom Leser – einmal bezahlt – sowohl als mitgelieferte Papier-Version, als auch auf Handy, PDA, Laptop oder Fernseher gelesen werden kann. Tritt also die Literatur den gleichen Weg an wie Musik und Film vor ihr? Wird so die Zukunft aussehen? Nach der Plattensammlung und der privaten Videothek verflüchtigt sich nun auch Bücherregal, und lässt den Menschen in einem immer kahler werdenden Zimmer zurück. Er sitzt mit dem Handy in der Hand auf dem kühlen Parkettboden, auf dem Gesicht der blaue Schimmer des LED-Displays – und, vielleicht, sogar, ein Lächeln.

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