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"Nie wieder Faschismus, nie wieder dritte Liga!": Über den Verein St. Pauli

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Als den „populärsten erfolglosen Fußballverein im Land“ beschreibt die „Berliner Zeitung“ den FC St. Pauli. Ein Satz, der den Verein vom Millerntor nicht nur treffend beschreibt, sondern vielmehr die Schlussfolgerung zulässt, dass der Mythos, der diesen Klub umgibt, kaum durch sportliche Leistungen entstanden sein kann. Es sind tatsächlich die Fans, die dem Kiezclub sein Image verleihen und ihn über Hamburgs Grenzen, ja sogar weit über Deutschlands Grenzen hinaus, bekannt gemacht haben. Erstaunlich, dass es tatsächlich so weit gekommen ist, wenn man bedenkt, dass der Verein in den 60er und 70er Jahren einen Zuschauerschnitt von ca. 3000 Anhängern hatte, die Kicker sich meist in der zweiten oder dritten Liga mehr schlecht als recht herum schlugen und der FC weit mehr als nur einmal vor dem Konkurs stand.

Das Rock’n’Roll-Image des Fußballzwergs entstand Ende der 80er. Beim Lokalrivalen HSV (sowie in ganz Deutschland) begannen sich, rechtsextreme Fans und mit ihnen rassistische Parolen breit zu machen. Das Volksparkstadion war aus architektonischen Gründen kein geeigneter Platz mehr für den vereinsnahen Anhänger und in der Hafenstraße, sowie im Schanzenviertel wurden von der linken Szene Häuser besetzt. Als Folge des Rechtsrucks suchten sich einige HSV-Fans einen neuen Verein und die Leute aus der Hafenstrasse hatten das Millerntor plötzlich ebenfalls für sich entdeckt. Somit verändert sich das Publikum maßgeblich und neue Schlachtgesänge wie „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, nie wieder dritte Liga!“ oder „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer verrät uns nie? St. Pauli!“ hallten durch das Stadion. Und auch optisch hatten die Ränge ein anderes Gesicht, denn auf einmal regierten Totenkopffahnen und Che-Guevara-T-Shirts statt Bierbauch und Jeanskutte. Nach jedem Spiel gab es eine Demo und der Zuschauerschnitt hatte sich in kürzester Zeit auf 7500 erhöht. Doch das erklärt lange noch nicht, wie es dem FC gelang auch außerhalb St. Paulis bekannt zu werden. „Freudenhaus der Liga“ Hierbei spielt wenig überraschend das Fernsehen eine große Rolle. Der Fußball war in den 1980er Jahren in ein großes Stimmungstief gefallen und begann, sich zufällig gerade 1988 zu erholen, als der FC St. Pauli zum zweiten Mal Aufstieg in die 1. Liga schaffte. Die Fußball-Berichterstattung war seit geraumer Zeit im Umbruch, da sie von Privatsendern wie Sat1 und RTL übernommen worden waren. Diese Art der Übertragung beinhaltete, neben dem reinen Fußball, mehr und mehr die Geschehnisse, welche sich abseits des Feldes abspielten. Plötzlich wurde auch das Umfeld des Vereins und mit ihm die Fans interessant für die Medienanstalten. Der politisch interessierte, humorvolle und kreative Fan des FC St. Pauli war das ideale Zugpferd, mit dem viele Zuschauer sympathisierten und sich identifizierten. Von da an begann, der Mythos des FC St. Pauli zu wachsen – und gleichzeitig verfiel die Ursprungsidee. Denn nicht nur das Image des Vereins, sondern auch das Bild des ganzen Viertels fing an, sich zu verändern. Die vielen Bordelle und Etablissements, in denen sich früher lediglich Touristen und Matrosen tummelten, mussten der aufkommenden Angst vor Aids weichen, wodurch die Mieten sanken und neue „Investoren“ ihre Chance witterten. Viele Gastronomen etablierten im Stadtteil eine neue Tanz- und Kneipenkultur, wie eben die linke Szene eine neue Kultur im Verein des FC St. Pauli etabliert hatte. Nun konnte man vor und nach dem Stadionbesuch in eine Kneipe in bequemer Entfernung gehen. Und so war es nur noch eine logische Folge, dass auch unpolitische Hamburger anfingen, sich das „Freudenhaus der Liga“ aus der Nähe anzusehen, um anschließend zwar nicht mehr auf eine Demo zu gehen, aber seinem Ärger immerhin noch an einer Buddl Astra Luft zu machen. Diese Entwicklung hat sich bis heute fortgesetzt. Die Reeperbahn kann sich stolz als „Die größte Amüsiermeile Europas“ bezeichnen und St. Pauli wird stetig vom Szenevolk für sich entdeckt und erhält regen Zulauf, oder besser gesagt Zuzug. Die alternative Szene wird immer weiter verdrängt. Diesmal werden keine Häuser besetzt oder Straßenschlachten ausgefochten, sondern eher still und berauscht der Rückzug angetreten.Und so verändert sich zwangsläufig auch das Publikum im Stadion. Revolution im Kinderzimmer Der FC St. Pauli ist dagegen sportlich gesehen so gut wie der alte geblieben. 2000 halten sie sich gerade noch so in der zweiten Liga, um 2001 in die erste Liga aufzusteigen und im Februar 2002 als Tabellenletzter den FC Bayern zu schlagen. 15 Monate später steigen sie nach 17 Jahren wieder in die dritte Liga ab und benötigen nun zwei Millionen für die Regionalliga-Lizenz. Den Verein retten kann nur noch sein eigener Mythos und so werden weltweit „Retter“ T-Shirts verkauft, in Gaststätten die eigene Leber bei „Saufen für St. Pauli“ aufs Spiel gesetzt, Günther Grass liest kostenlos am Millerntor und der FC Bayern überlässt bei einem Gastspiel alle Einnahmen dem Verein. Die zwei Millionen werden erreicht und der Verein ein weiteres Mal von seinem eigenen Image vor dem freien Fall bewahrt. Doch diejenigen, die diesen Mythos erst erschaffen haben, um später machtlos seiner Kommerzialisierung beizuwohnen, haben dem Verein verärgert den Rücken gekehrt. Um den Ärger zu verstehen, muss man sich nur einmal ein Heimspiel des FC St. Pauli anschauen und alteingesessenen Fans wie Marcus Lindenauzuhören: „St. Pauli ist neben Bayern und Dortmund der kommerzialisierteste Klub Deutschlands. Die jungen Fans schwimmen ebenfalls auf der verkehrten Welle. Die, die sich Ultras nennen, die politische Fahne hochhalten und sehr extrem sind, setzen sich in ein Nest, das andere gebaut haben. Viele meinen, nur weil sie ein Che-Guevara-Shirt anhaben, machen sie Revolution im Kinderzimmer.“ Und Recht geben muss man ihm spätestens, wenn man eine Broschüre der St.-Pauli-Vermarktungs-GmbH für potenzielle Werbepartner liest: „Mehr als bei jedem anderen Fußballverein trifft man beim FC St. Pauli mittlere bis höhere Einkommensschichten und Fans mit akademischer Bildung.“ Auch das Stadion, das früher wegen seiner englischen „Pureness“ geliebt wurde, wird gerade modernisiert, die Südkurve ab Dezember 2006 und das komplette Millerntor-Stadion bis 2013. Das muss so sein, denn das alte Millerntor ist nicht mehr zeitgemäß, was schlicht und einfach bedeutet: Es passen nicht genügend Fans in das Stadion, um den Verein wirtschaftlich profitabel und im Profifußball zu halten. Der Verein geht mit der Zeit und mit ihr die Rebellen von früher.

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