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Normalität mit Hitlerbild

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Felix Hansen ist Mitarbeiter beim Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin e.V. (apabiz) und engagiert sich seit dem Beginn des NSU-Prozesses am 6. Mai 2013 für die Initiative NSU Watch, die unabhängig den NSU-Prozess verfolgt. Er ist zum Teil selbst im Gerichtssaal und koordiniert von Berlin aus die Arbeit von NSU Watch. Unter anderem schreiben die ehrenamtlichen Helfer jeden Tag ein Protokoll und veröffentlichen es auf Deutsch, Englisch und Türkisch. Im Strafprozess werden, im Gegensatz zum Zivilprozess, keine Protokolle angefertigt.

1. Gänsehaut im Gerichtssaal

„Am bewegendsten war für mich, als Ismail Yozgat, der Vater des Opfers Halit Yozgat, im Gericht beschrieb, wie er seinen Sohn tot in seinem Internet-Café auffand. Ismail Yozgat sprang auf, lief durch den Saal, er schrie immer wieder: „Er (sein Sohn, Anm.d.Red.) hat nicht geantwortet! Er hat nicht geantwortet!“ Ismail Yozgat legte sich auf den Boden, im Gericht, um zu zeigen, wie er seinen Sohn auffand. Er war von seinen eigenen Gefühlen überwältigt. Seine Frau richtete sich in einem Appell an Beate Zschäpe. Sie sagte, dass sie seit dem Mord an ihrem Sohn keine Nacht mehr durchgeschlafen habe. Die Familien der Opfer sind ihr Leben lang gezeichnet. Erst im Gericht haben wir begriffen, was die NSU-Mordserie bedeutet.“

2. Die unaufgeräumte Wohnung

„Als es um die einzelnen Morde ging, wurden Fotos von den Tatorten an die Wand im Gericht projiziert. Ein Ermittler kommentierte jeweils die Fotos, manche ausführlicher, manche sehr knapp. Im Fall Abdurrahim Özüdogru, den der NSU 2001 in Nürnberg tötete, wurden Fotos vom Tatort, aber auch von der Wohnung des Opfers gezeigt. Da meinte dann der Ermittler im Gericht darauf hinweisen zu müssen, wie unaufgeräumt die Wohnung des Mordopfers doch war. Das hat keinerlei Bedeutung für dieses Verfahren! Die Fotos führen einem die Grausamkeit der Verbrechen vor Augen – und ihm erscheint es wichtig, dass die Wohnung nicht ordentlich war.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Seit 110 Prozesstagen beschäftigt sich das Oberlandesgericht München mit Beate Zschäpe und dem NSU. Bisher wurden Zeugen, Angehörige und Ermittler der neun Morde und im Moment vor allem Zeugen aus dem Umfeld und Unterstützer der Angeklagten angehört.

3. Moment der Selbstermächtigung

„Die Nebenkläger haben das Recht, den Zeugen Fragen zu stellen. Normalerweise machen das ihre Anwälte. Ismail Yozgat tat das persönlich. Er fragte den Verfassungsschutz-Mitarbeiter Andreas T., was er sah, als er im Internet-Café war. Er saß ja im Hinterzimmer, als der Mord geschah. Andreas T. will dann rausgegangen sein, will von dem Mord nichts bemerkt und den erschossenen Halit Yozgat nicht gesehen haben. Ismail Yozgat antwortete ihm, dass es nicht so gewesen sein kann, weil der Ermordete so hinter dem Schreibtisch lag, dass Andreas T. ihn gesehen haben muss. Im Gericht glaubt niemand Andreas T.s Geschichte. Ich weiß nicht, ob jemals geklärt werden kann, wie es wirklich war. Aber dieser Moment der Selbstermächtigung, dass Ismail Yozgat aus seiner Rolle als Opfer herausging, war bis jetzt einer der stärksten im ganzen Prozess.“

4. Normalität mit Hitlerbild

„Der Begriff der Normalität taucht im Verfahren immer wieder auf. Anja S., eine frühere Freundin vom Angeklagten André E., sagte aus, die rechte Kultur in ihrer Jugend im Erzgebirge sei ‚doch völlig normal’ gewesen. Mit 15, 16 war sie mit André E. befreundet. Der hatte damals schon Nazi-Tattoos. Sie nahm das in ihrer Jugend nicht als auffällig wahr, sondern als Normalität. Nachbarn von Beate Zschäpe in Zwickau, die immer wieder mit ihr zusammen waren und mit ihr im Partykeller Prosecco tranken, beschrieben ein Bild von ihrer Normalität – in der ein Hitlerbild an der Wand hängt. Eine Nachbarin aus der Polenzstraße, die über Jahre Kontakt mit Zschäpe hatte, wurde damit konfrontiert, dass ihr Ehemann auf seinem Facebook-Profil rassistische Kommentare und Hetzgedichte postet. Sie sagte, ihr Ehemann habe eine ‚normale politische Gesinnung’.“

5. Gespielte Naivität

„Ich finde es erstaunlich, wie häufig Zeugen aus der Neonazi-Szene mit ihrer gespielten Naivität durchkommen. Sie wollen wirklich nichts zu einer Aufklärung beitragen. Mandy S. hatte in der frühen Anfangszeit Kontakt zu den drei Untergetauchten, Zschäpe benutzte eine Weile ihre Identität. Mandy S. hat als Kennzeichen BH 88. Der Richter fragte sie, wofür das stehe. Sie antwortete: ‚Für Bike-Halterin Honda Hornet.’ Wir wissen, dass die Szene sehr gerne mit Codes spielt, dass BH für ‚Blood and Honour’ und 88 für ‚Heil Hitler’ steht, weil H der achte Buchstabe im Alphabet ist. Mandy S. kannte die ganzen Szenegrößen, sie war bei Aufmärschen dabei. Aber im Gericht wollte sie über Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos gar nichts gewusst haben. Sie sagte, sie habe ihnen nur eine Wohnung vermittelt, die Politik in der Szene habe für sie keine Rolle gespielt. Es ist eine schrecklich naive, völlig unglaubwürdige Rolle, die sie da spielt - ohne Konsequenzen für sie.
Bisher hat der Richter Götzl nur einmal mit Beugehaft beziehungsweise Strafgeld gedroht. Thomas R., bei dem die Drei eine Zeit lang wohnten, antwortete immer nur mit drei Worten. Götzl fragte ihn nach der Gruppe ‚88er’ in Chemnitz, bei der er Mitglied war, was ‚88’ bedeute. Eine Minute lang überlegte er ganz angestrengt, dann sagte er, er wisse es nicht. Da wurde Götzl wütend.“

6. Wichtige Nebenklage-Anwälte

„Im Gericht geht es vor allem um die fünf Täter. Die Nebenklage versucht eine umfassende Aufklärung, die Struktur, das Umfeld des NSU zu beleuchten. Ich finde das wichtig, um das System des NSU zu verstehen. Manchmal wird gestöhnt im Gerichtssaal, weil die Nebenklage viel nachfragt. Besonders deutlich wurde das, als ein früherer Neonazi vorgeladen war, der für die Drei eine Wohnung angemietet hatte. Im Gericht sagte er, es sei ihm egal gewesen, ob sie einen Schokoriegel geklaut oder jemanden umgebracht hätten. Die Nebenklage fragte dann, welche Gedanken er sich machte, als er 2011 erfuhr, dass die drei tatsächlich Morde begangen haben. Da intervenierte die Bundesanwaltschaft und sagte, es stehe der Nebenklage nicht zu, diese Frage zu stellen: ‚Wir sind hier nicht beim jüngsten Gericht.’
Aber es wird besser. Am Anfang fragte nur die Nebenklage nach militanten Strukturen, nach ‚Blood and Honour’, auch nach dem Kennzeichen von Mandy S. Aber inzwischen fragt auch der Richter akribisch nach.“

7. Solidarität im Gerichtssaal

„Am Geburtstag von Ralf Wohlleben waren vier Neonazis aus Thüringen im Gericht. Sie versuchten, sich ganz vorne auf der Empore hinzusetzen, damit er sie auch sehen kann. Er sah sie dann auch, sie tauschten Blicke, winkten sich zu. Solche Solidaritätsbekundungen beobachten wir immer wieder, das stärkt natürlich das Selbstbewusstsein der Angeklagten. Manchmal sitzen Neonazis auf den Besucherplätzen und tragen T-Shirts mit den Aufschriften „Ich hab’s gewagt“ (Rudolf Heß’ Grabsteininschrift) oder ‚Gefangenenhilfe – Gemeinschaft statt Isolation’. Das Gericht hat durchaus die Möglichkeit, auf die Kleidung der Besucher einzuwirken und das zu verbieten. In München hat noch kein Besucher deshalb Konsequenzen gespürt. Menschen, die Solidarität mit den Angehörigen und den Nebenklägern zeigen, sind leider nur selten da.“

8. Ohnmächtiges Gericht

„Drei der Angeklagten sind frei. Ein irrer Anblick: Sie stehen mittags in der Sonne und rauchen. Die Angehörigen kommen zwei Meter hinter den Angeklagten aus dem Gerichtssaal heraus. Regelmäßig kommen Neonazis ins Gericht und unterhalten sich in der Mittagspause vor dem Gebäude mit André E. Das Gericht ist nicht in der Lage, die Angehörigen da zu schützen.“  

9. Zschäpe und die Waffe „Walli“

„Eine Zeugin, mit der Zschäpe um 1996 zusammen in der Disco war, erzählte im Gericht, dass Zschäpe damals mit einer Waffe am Gürtel herumlief, dass sie einmal nach Hause trampten und Zschäpe der Person, die sie dann mitnahm, die Waffe zeigte und sie bedrohte. In Zschäpes Wohnung wurde ein ganzes Waffenlager gefunden. Die Zeugin erzählte, dass Zschäpe immer eine Gaspistole bei sich hatte und sie liebevoll ‚Walli’ nannte. In der Gesellschaft existiert das Bild von Uwe Mundlos als Waffennarren, als Gewalttätigen der Drei, und die Vorstellung, dass Neonazis, speziell militante Neonazis, männlich sind. Bei Zschäpe sieht man, dass das nicht der Fall ist.“

10. Struktureller Rassismus

„Der langjährige Leiter der Münchner Mordkommission Josef Wilfling, der die Münchner NSU-Morde bearbeitet hat, wurde im Gerichtssaal gefragt, wieso er nicht in der rechtsextremen Szene ermittelt habe, sondern ausschließlich im persönlichen Umfeld und nach Mafia-Verbindungen. Tötungsdelikte von rechts, antwortete Wilfling, das seien alles laute und brutale Angriffe, das sei hier nicht der Fall, und jetzt soll man bitte nicht so tun, als ob es keine türkische Drogenmafia gäbe. Dieser rassistische Blick, dieser strukturelle Rassismus begegnet uns oft im Gerichtssaal.“

+++  

Alles über den NSU-Prozess findest du hier.  

Das SZ Magazin veröffentlichte Ende 2013 ausgewählte Protokolle aus dem ersten Jahr NSU-Prozess. Und machte daraus einen grandiosen Film:  

http://www.youtube.com/watch?v=49EpcfdZApU


Text: kathrin-hollmer - Foto: dpa

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