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Produktbiographie: Meine Zeittotschläger

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1. Pflastern Die Sache mit den Kinderbeeten war eine pädagogisch wertvolle Geste meiner Eltern. Jeweils zwei, drei Quadratmeter in schattiger Vorgarten-B-Lage, auf denen ich und meine beiden Brüder Verantwortung lernen sollten. Meine Brüder setzten im Herbst Tulpenzwiebeln, säten im Frühjahr Blumen und versuchten sich an der ein oder anderen Nutzpflanze. Zwischendurch jäteten sie verbissen Unkraut. Ich legte in der Mitte meines Beetes erst einmal einen Weg aus Waschbetonplatten an. Links und rechts davon pflanzte ich zunächst Primeln ein, später versuchte ich mich eher halbherzig an Erdbeeren. Nach überschaubaren Zuchterfolgen riss ich den ganzen Plunder raus und entschied mich für einen Steingarten - abermals aus Waschbeton, aufgelockert mit rötlichen Betonpflastersteinen. In den folgenden Jahren konnte ich mein Einflussgebiet Schritt für Schritt ausweiten. Zwischen Küche und Komposthaufen entstand ebenso ein Betonweg, wie zwischen Terrasse und Blumenbeet. Den Kräutergarten fasste ich in beim Hausbau übrig gebliebene Ziegelsteine ein. Mein Vorschlag, die Kante zwischen Beeten und Rasenfläche doch einfach zu betonieren, setzte sich leider ebenso wenig durch wie meine Idee, einen Grill zu mauern, was aber so schlimm nicht war: Zeitgleich bekam die Einfahrt zum Hof meines besten Freundes eine neue Asphaltdecke - und wir Kinder durften "helfen". Der Teergeruch! Die Baustellenfahrzeuge! Diese wunderbar schwarz glänzende Fläche dort, wo sich früher ein mickriger Feldweg übers Grundstück schlängelte! Pflastern, das kann man schon so sagen, fehlt mir heute ein bisschen.


2. Nummernschilder notieren 1986 lebten wir in Texas und fuhren mit hübscher Regelmäßigkeit die Strecke von Austin nach San Antonio, wo gute Freunde wohnten. Die knapp zweistündige Fahrt zog sich wie Kaugummi - und war, wenn man sich daran gewöhnt hatte, dass die Lastwagen etwas größer waren als daheim in Deutschland und es Autos gab, die Holzdekorfolie an den Türen hatten, spannend wie die Strecke zwischen München und Frankfurt am Main. Das Einzige, was mich nachhaltig begeisterte, waren die Nummernschilder. Bunt waren sie, manchmal sogar mit einem Bild im Hintergrund. Ich beschloss, die Häufigkeit der verschiedenen Staaten zu untersuchen. Um niemanden zwei Mal aufzuschreiben, notierte ich jeweils die ganze Nummer in einem Din-A-5-Büchlein - und konnte auch nicht aufhören, als halbwegs dicht bevölkerte Nachbarstaaten wie Oklahoma oder Louisiana bereits in die vierte Seite gingen. Als wir nach acht Monaten zurück nach Deutschland zogen, machte ich weiter. Jedes holländische Wohnwagengespann, an dem wir auf der Autobahn vorbei zogen, notierte ich. Und wenn irgendein BMW mit Fremdkennzeichen so schnell an uns vorbeizog, dass ich seine Nummer nicht lesen konnte, musste meine Mutter ihre Geschwindigkeit eben ebenfalls etwas Richtung Führerscheinverlust pimpen. Da war ich gnadenlos. Zeitweise übertrug ich die Nummern daheim in ein weiteres Buch - in Schönschrift und nach Alphabet geordnet. Wann und warum ich mit dieser völlig sinnlosen Tätigkeit aufhörte, weiß ich leider nicht mehr. Die wohl gut 200 Seiten Zahlen und Buchstaben - jeweils sechs pro Reihe - warf ich irgendwann weg.


3. Die Hitparade Als ich in der 4. Klasse war, kamen jeden Freitag um 20.00 Uhr auf Bayern 3 die "Schlager der Woche". Das wusste ich, darauf konnte ich mich einstellen. Ich setzte mich also vor meinen Kassettenrecorder und schnitt mit. Außerdem hatte ich einen blauen Ringordner, in dem ich alle Veränderungen niederschrieb und die Songs bewertete. Die Gesamtnote ergab sich dabei aus vielen Unternoten: Der Refrain hatte zu "fetzen", die Stimme des Sängers musste gut und - wichtig - männlich zu sein. Auch die Länge des Stücks war wichtig, schon damals waren mir ewige Riemen, die die Fünfminutengrenze hinter sich ließen, zutiefst zuwieder. Aus diesem kleinen Spleen wurde bald einer, der große Teile meiner Freizeit fraß. Ich entdeckte im Mittelwellenprogramm der BBC die britischen Charts und auf dem US-Militärsender die amerikanischen, begann sogar die damals schon indiskutabel schlechten Hitparaden von Sendern wie Radio Gong festzuhalten. Um einen besseren Überblick zu bekommen, pinnte ich die Ergebnisse der jeweiligen Woche an die Dachschräge über meinem Bett. Dass ich auch diese Notizen später Richtung Altpapier schubste, bereue ich aufrichtig. Ein Glück, dass ich auf den Hüllen der wenigen damals gekauften Schallplatten bisweilen die jeweilige Wertung notierte. So weiß ich auch heute noch, dass ich Nick Kamens "I Promised Myself" und "Bow Down Mister" vom Boy-George-Projekt Jesus Loves You damals Höchstnoten verlieh. Sind übrigens beides auch heute noch fetzengute Popsongs.


4. Pacman Und wieder war Amerika schuld. Im Arbeitszimmer von Tom, eines Kollegen meines Vaters, stand ein Computer. Und während wir da zu Besuch waren, unternahmen meine dem Computerspiel wenig aufgeschlossenen Eltern keine ernsthaften Versuche, uns vom Spielen abzuhalten. War ja Urlaub. So verzichteten meine Brüder und ich auf jedes Ausflugsprogramm. Wir saßen vor dem Rechner und spielten Pacman. Zurück in Deutschland, stellte ich allerdings rasch fest, dass ich eher ein Late-Adaptor war. Pacman, meine süße Entdeckung aus dem gelobten Land, war bei der oberbayrischen Dorfjugend gnadenlos out. Dass wir bald darauf unseren ersten Familiencomputer hatten - einen Armstrad PC, er stand bezeichnenderweise im Keller - war für mich dennoch ein Fest. Ich weiß nicht mehr, ob einer der computeraffinen Freunde meines Bruders Pacman besorgte oder ob das auf dem Rechner vorinstalliert war - auf jeden Fall spielte ich es Nachmittage lang und zusätzlich in jeder Minute, in der meine Eltern nicht zu Hause waren. Eigentlich war der Computer natürlich "nicht zum Spielen da", sodass der Nervenkitzel weniger von Pacman ausging, als von der Angst, von der Mutter entdeckt und zurück Richtung Tageslicht gescheucht zu werden.


5. Farmville Schweizer Bundesbehörden, so stand unlängst "im Internet", würden ihren Mitarbeitern jetzt Facebook sperren. Bumm, einfach so. Gut, dass ich kein Schweizer Bundesbeamter bin, dachte ich mir beim Lesen, aber auch: Gut, dass ich überhaupt kein Festangestellter bin. Facebook geht ja noch. Ein Musikvideo hochzuladen und der Welt mitzuteilen, dass das bitteschön der neue heiße Scheiß ist, dauert selbst für einen extrem langsamen Menschen nicht mehr als vier Minuten. Die sogenannte "Application" Farmville ist da schon etwas zeitfressender und übt momentan einen nicht geringen Einfluss auf meinen Alltag aus. Die größte Spiel-Anwendung auf Facebook funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Man pflanzt was an und erntet es. Außerdem muss man Kühe melken, Schafe scheren und Obst pflücken. Zwischendurch pflügt man, hilft seinen Nachbarn und versucht mit alldem, bunte Abzeichen zu verdienen, Punkte zu machen und sich Level für Level nach oben zu schieben. In zahllosen Internetforen finden sich ausgeklügelte Diskussionen darüber, welcher Ackerbau der lukrativste ist und ob man besser einen Mähdrescher oder einen Pflug kauft. Heute morgen habe ich mal auf die Uhr geschaut: Schon direkt nach dem Aufstehen verbringe ich eine gute halbe Stunde bei Farmville. Im Laufe des Tages dürfte sich diese Zeitspanne verfünffachen - irgendein Baum trägt immer Früchte, irgendeiner schenkt einen immer eine Kuh, eine Bananenstaude oder ein Vogelhäuschen. Und setzt man Himbeeren, muss man die alle zwei Stunden ernten. Schade, dass man keine Waschbetonplatten kaufen kann - ich würde meine Farm einfach komplett durchpflastern und hätte auf ewig meine Ruhe.

Text: jochen-overbeck - Illustration: judith-urban

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